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Fernab von Ideologien

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1984: 50 Jahre nach 1934 - ein Gedenkjahr naht, das Chance und Risiko birgt. Wir baten einen unverdächtigen Zeugen ums Wort; Wissenschafter und Sozialdemokrat. .

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1984: 50 Jahre nach 1934 - ein Gedenkjahr naht, das Chance und Risiko birgt. Wir baten einen unverdächtigen Zeugen ums Wort; Wissenschafter und Sozialdemokrat. .

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Historische Perspektiven bestätigen grundlegende Werte, motivieren Verhalten und beeinflussen entscheidend, was als Recht oder Unrecht und als gut und böse betrachtet wird.

Das Jahr 1984 könnte als Gedenkjahr für das Jahr 1934 ein Jahr zum Guten oder zum Bösen für die österreichische Demokratie werden. Die parlamentarische Demokratie hat zwar in Österreich seit fast vier Jahrzehnten vorbildlich funktioniert und gro-

ße Leistungen ermöglicht, doch ist sie im Geschichtsbewußtsein der Österreicher kaum verankert.

Im Lichte eines gegenwartsbezogenen Pragmatismus erscheint die Geschichte häufig als farblose unzusammenhängende Chronik. Aussagekräftige Geschichtsbilder werden daher hauptsächlich von Lagerpatrioten vermittelt nach dem zynischen Grundsatz: „Geschichte ist in die Vergangenheit projizierte Politik” (Mikhail N. Pokrowski).

Diese Praxis könnte zu einer Wiederbelebung der durch die Geschichte völlig kompromittierten utopischen und antidemokratischen Ideologien führen, an welchen die parlamentarische Demokratie in der Ersten Republik gescheitert ist. Allen diesen Ideologien ist gemeinsam das Ziel einer perfekten, harmonischen konfliktfreien Gesellschaftsordnung,

in der sich die parlamentarische Demokratie mit ihren notwendigerweise imperfekten Institutionen der Gewaltenteilung natürlich erübrigt.

Die angestrebte Perfektion einer konfliktlosen Gesellschaft erschien in der Ersten Republik

• zur Linken in der Form einer klassenlosen und herrschaftsfreien Gesellschaft aus der Prophetie von Karl Marx;

• im konservativen Lager als Traumbild vom „Ständestaat”un- ter autoritärer Führung im Sinn von Othmar Spanns Vorstellung von Platos „Staat”, welcher der Verfassung vom 1. Mai 1934 als Modell diente;

• am rechten Flügel des „nationalen” Lagers in der Form der Volksgemeinschaft von Blut und Boden des deutschen Nationalsozialismus.

Jetzt ist es kaum sinnvoll, über die Politiker zu Gericht zu sitzen, deren Fehlleistungen zum Jahr 1934 und den darauf folgenden Katastrophen geführt haben. Alle diesbezüglichen Urteile hat bereits die Geschichte gefällt. Wir können aus den damals begangenen Fehlern am meisten lernen, wenn wir anerkennen, daß diese Entscheidungen in gutem Glauben in Situationen getroffen werden mußten, für die es keine Präzedenzfälle gab.

Folglich orientierten sich viele an politischen Ideologien, die sich seitdem allesamt als Irrlichter erwiesen haben. Jetzt besteht die Gefahr einer Wiederbelebung an tidemokratischer Ideologien im Zusammenhang mit Veranstaltungen zum Gedenken an das Jahr 1934. Das zu verhindern, erscheint als vornehmliche Aufgabe der drei im Parlament vertretenen Parteien und ihrer politischen Akademien.

Als Ausgangspunkt für eine solche Zusammenarbeit erscheint eine Ehrung des Andenkens der österreichischen Politiker der Zwischenkriegszeit, die klar und eindeutig auf dem Boden der Demokratie gestanden sind. Unter ihnen befanden sich führende Politiker in allen drei Lagern, dank deren demokratischer Zusammenarbeit die Demokratie immerhin eineinhalb Jahrzehnte lang funktioniert hat. In dieser Zeit wurde übrigens mit der Verfassung vom Herbst 1929 das Grundgesetz geschaffen, auf dem die erfolgreiche Demokratie der Zweiten Republik steht.

Natürlich ist zu erwarten, daß an die in den Kämpfen des Jahres 1934 ums Leben gekommenen Opfer in unterschiedlicher Bewertung gedacht wird. Eine demonstrative Betonung der Gemeinsamkeit auf dem Boden der Demokratie aller drei im Parlament vertretenen Parteien sollte jedoch verhindern, daß gerade diese unterschiedliche Bewertung der Opfer dieses Jahres zu einer Wiederbelebung der damaligen ideologischen Gegensätze führt.

Statt dessen sollte vor allem der Jugend der Sinn der Aussage von Giacomo Mateotti vermittelt wer den: „Mit der Demokratie ist es wie mit der Luft, die wir atmen. Wir würdigen sie erst, wenn wir sie verlieren.”

Diese Einsicht, die seinerzeit auch für Mateotti zu spät gekommen war, fehlte vielen österreichischen Politikern. Sie erkannten des öfteren zu spät, daß sie bei allen Streitfragen, die sie trennten, einander näherstanden als den antidemokratischen Utopisten des eigenen Lagers.

Nach dem blutigen Bürgerkrieg von 1934 und dem darauffolgenden Jahrzehnt lernten die meisten Österreicher die parlamentari sche Demokratie zu schätzen, die sie vorher im Lichte von unterschiedlichen utopischen Vorstellungen abgewertet oder überhaupt abgelehnt hatten.

Jetzt gilt es, kommende Generationen gegen diese Ideologien zu; immunisieren — im Andenken an die Opfer des Jahres 1934, in den Worten von Ralf Dahrendorf: „Ein Land, das mit sich im reinen ist, sollte sich über die Zukunft streiten, aber keine wesentlichen Differenzen über seine Geschichte haben.”

Der Autor ist Vorstand des Instituts für Soziologie der Universität Wien.

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