6872826-1978_31_10.jpg
Digital In Arbeit

Fernsehen taugt nicht zum Kindermädchen

Werbung
Werbung
Werbung

Der Fernsehapparat nimmt nicht nur einen festen Platz in jeder Wohnung ein, er muß darüber hinaus - je nach Bedarf - den Freund, den Babysitter oder den Gesprächspartner ersetzen. Wie gezielt Fernsehen wirkt, ist trotz langjähriger wissenschaftlicher Forschung bis heute offen geblieben. Der Streit um dramatische Wirkungen ist allerdings viel älter als das Fernsehen. Schon Plato verdammte Gewaltszenen auf dem Theater als Gefahr für die Gemeinschaft, während Aristoteles darin eine Möglichkeit sah, Aggressionen abzureagieren.

Im Prinzip gibt es zwei pädagogische Theorien. Die eine vertritt wie Aristoteles und in Anlehnung an Sigmund Freud die Ansicht, daß durch die Darstellung von Gewalt bereits vorhandene Aggressionen abreagiert werden und daher ohne Auswirkungen bleiben. Die Imitations- oder Lemtheorie meint dagegen mit Plato, daß Gewaltdarstellungen als Vorbild dienen. Während die Anhänger des Abreagie- rens bestensfalls beweisen können, daß Gewaltdarstellungen im Fernsehen bei einigen Versuchen „erfolglos” geblieben sind, können die anderen mit handfesten Untersuchungsergebnissen aufwarten.

So hat der kanadische Psychologe Richard H. Walter einen Test mit Jugendlichen durchgeführt. Eine Gruppe ließ er die Lehrer spielen, welche die andere Gruppe, die Schüler, prüfen sollte. Wurde eine Frage richtig beantwortet, ließ der jugendliche „Lehrer” ein grünes Licht aufleuchten. War die Antwort des Schülers falsch, erhielt er durch einen Knopfdruck des „Lehrers” als Strafe einen kleinen elektrischen Schlag. Nach einer Weile wurde der Test unterbrochen, beide Gruppen geteilt und in einen Filmraum geführt. Die eine, nun aus „Lehrern” und „Schülern” bestehende Gruppe sah einen Wildwestfilm, in dem es von Morden und Gewalttaten nur so wimmelte, der anderen Hälfte wurde ein harmloses Lustspiel vorgeführt. Als der Test nach den Filmvorführungen fortgesetzt wurde, zeigte sich: die „Lehrer”, die den Wildwestfilm gesehen hatten, dehnten die „Bestrafungen” der Schüler länger aus und setzten sie häufiger und sichtlich mit Vergnügen ein. Bei den „Lehrern”-, die den Lustspielfilm gesehen hatten, war keine Änderung im Bestrafungsverhalten eingetreten.

Auch die Ergebnisse des englischen Psychologen Belson sprechen für die Lemtheorie. Belson beobachtete durch zwei Jahre mehr als 1500 Londoner Jugendliche im Alter zwischen 13 und 16 Jahren. Ein Teil von ihnen waren Dauerfemseher mit einer Vorliebe für Gewaltprogramme, die anderen saßen nur imregelmäßig vor dem „Kasten”. Belson stellte fest, daß die Jugendlichen, die regelmäßig Gewaltdarstellung sahen, um 50 Prozent häufiger selbst an schweren, gewaltsamen Ausschreitungen beteiligt waren.

Aber auch der deutsche Psychologe Alexander Stachiw und der österreichische Neurologe Georg Spiel haben in einer gemeinsam durchgeführten Untersuchung festgestellt, daß sich gerade jugendliche Fernseher von Gewaltdarstellungen wesentlich stärker beeinflussen lassen als ältere und daß die ständige Verfügbarkeit des Fernsehens in weit größerem Ausmaß psychische Veränderungen hervorru- fen kann als Filme, die im Kino gezeigt werden.

Während nun spannende Fernsehsendungen Gespräche völlig unterbinden, kommt es bei Unterhaltungsund Sportsendungen doch immer wieder vor, daß unbekümmert dazwischengeredet wird. Leidtragende sind in jedem Fall die Kinder. Ihre Rolle beschränkt sich auf schweigende Anwesenheit und Zuhören. Als Gesprächspartner haben sie keine Funktion, und hier liegt auch das Hauptproblem. Wo Tag für Tag stundenlang der Fernseher läuft, das Programm wahllos konsumiert und die Wahl nicht auf die Kinder abgestimmt wird, gibt es weder eine Verständigung miteinander noch Verständnis füreinander. In den meisten Familien gilt der Femsehplatz als neutrale Zone, wo die Grundregel gilt: Schweigen und Zusehen. Gespräche über den Beruf, die Schule, familiäre Angelegenheiten, aber auch über Unterhaltung, Mahlzeiten und TageSereignisse fallen dem Fernsehprogramm zum Opfer.

Ein in Deutschland durchgeführter Test, bei dem Familien auf einige Wochen das Fernsehen entzogen wurde, hat deprimierende Ergebnisse gezeigt: Eheleute merkten, daß sie einander nichts zu sagen hatten; die Kinder wußten nichts mit sich anzufangen. Dieses Ergebnis bestätigt nur, daß die schon zum Schlagwort gewordene „Kreativität” mit Recht strapaziert wird. Kinder, die nur femsehen, verlernen es - oder erlernen es gar nicht -, eigene Ideen und Phantasien zu entwickeln und aus sich selbst heraus irgendwie aktiv zu werden.

Für einsame Menschen, aber auch für psychisch vereinsamte Kinder und Jugendliche werden Fernsehgestalten zum vertrauten (Ersatz-)Freund. Stei gert sich die Vertrautheit zur Identifizierung, verliert die Umwelt an Realität und der Fernseh-„Freund” wird zum Vorbild.

Beruflich überlastete Eltern, die sich die Zeit zum Gespräch, zum Spiel, zum Spaziergang mit dem Kind nicht nehmen, aber auch in ihrer Beziehung gestörte Eltern neigen dazu, die Kinder zum Femsehen abzuschieben. Die harmlosesten Folgen sind Nervosität und Konzentrationsschwäche bei den Kindern. Weit tragischer ist der Verlust an gefühlsmäßiger und verbaler Kontaktfähigkeit mit anderen Menschen. Der fehlende Realitätsbezug macht Kinder darüber hinaus noch anfälliger für die Identifizierung mit den im Femsehen so zahlreich gezeigten Gewaltdarstellungen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung