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Festmusik an der Zeitenwende

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In seinen Aufsätzen zur Erinnerung an die Schlacht um Stalingrad und an die alliierte Offensive in Nordafrika (FURCHE 1972, Nr. 50 und Nr. 51) hat F. M. Rebhann bereits jene merkwürdige Wirkung gezeigt, die beide Ereignisse noch immer auf unsere Gegenwart'ausüben. Im Frühjahr 1943, also genau vor 30 Jahren, überstürzten sich in Europa weitere Vorgänge, die fast vergessen sind, aber von der neuesten Geschichtsforschung mit der heutigen Situation ebenfalls in direkten Zusammenhang gebracht werden.

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In seinen Aufsätzen zur Erinnerung an die Schlacht um Stalingrad und an die alliierte Offensive in Nordafrika (FURCHE 1972, Nr. 50 und Nr. 51) hat F. M. Rebhann bereits jene merkwürdige Wirkung gezeigt, die beide Ereignisse noch immer auf unsere Gegenwart'ausüben. Im Frühjahr 1943, also genau vor 30 Jahren, überstürzten sich in Europa weitere Vorgänge, die fast vergessen sind, aber von der neuesten Geschichtsforschung mit der heutigen Situation ebenfalls in direkten Zusammenhang gebracht werden.

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Schon am 1. Mai 1943 hatte Marschall Stalin in seinem Befehl Nr. 195 der Roten Armee erklärt: „Urteilt man nach den Meldungen der Auslandspresse, so kann man den Schluß ziehen, die Deutschen möchten zum Frieden mit England und den Vereinigten Staaten von Amerika kommen, vorausgesetzt, daß diese sich von der Sowjetunion trennen oder umgekehrt, sie möchten zum Frieden mit der Sowjetunion kommen, vorausgesetzt, daß diese sich von England und den Vereinigten Staaten trennt. Wortbrüchig bis ins Mark der Knochen, haben die deutschen Imperialisten die Stirn, die Verbündeten an ihrer eigenen Elle zu messen ...“

Währenddessen bereiten die Generäle Popow, Sokolowski, Rokossow-sky, Watutin und Konjew die erste russische Sommeroffensive vor und das Oberkommando der Deutschen Wehrmacht muß angesichts dieser Gefahr noch mehr Divisionen als im vergangenen Jahr auf dem russischen Kriegsschauplatz massieren. Aber das Kriegsglück läßt sich nicht erzwingen: alles klammert sich schließlich an Flußübengänge und Eisenbahnknotenpunkte, die eine Verbindung nach dem Westen bieten, reißt die feindlichen Zangen auf und bemannt neue, inzwischen ausgebaute Verteidigungswälle. Doch auch diese liegen weiter westwärts.

Aber bis Mitteleuropa war noch ein unendlich langer Weg, und in Wien, wo Dr. Karl Sohönherr seit dem 23. März 1943 in einem Gemein-deehrengrab des Zentralfriedhofes ruhte, sollte ungeachtet aller Kriegsereignisse im Osten die Uraufführung der „Festmusik der Stadt Wien“, die Richard Strauss anläßlich der Verleihung des Beethoven-Preises zu komponieren versprochen hatte, erfolgen. Bürgermeister Ph. W. Jung wollte damit am 9. April den fünften Jahrestag des Führereinzuges ins Rathaus feiern und lud alles, was Rang und Namen hatte, für 13 Uhr in den großen Festsaal ein. Die Wiener Symphoniker machten mit dem Vorspiel aus „Die Meistersinger von Nürnberg“ einen würdigen Anfang, dann hielten Jung und andere Prominente ihre hochtrabenden Reden und Richard Strauss begab sich selbst ans Dirigentenpult.

Mag sein, daß Richard Strauss den Machthabern mit seiner Festmusik damals einen propagandistischen Dienst erwiesen hat. Aber fast zur selben Stunde verteidigte ihn Alma Mahler-Werfel in Amerika im Wilt-shire-Hotel gegenüber Golo Mann und Remarque in einer hitzigen Diskussion. Dabei hatte Alma kaum eine Ahnung davon, wie sehr Strauss drüben in Wien um seine jüdische Schwiegertochter und um seine halbjüdischen Enkel zittern mußte.

Doch in Wien saßen 1943 etliche Kulturmanager auf hohen Posten, die durchaus nicht als eigentliche Nazis gelten wollten, wenn sie auch kühne Pläne im Sinn der NS-Wer-bung hegten. Sie verkehrten mit Strauss und seiner jüdischen Nachkommenschaft und sprachen beim zögernden Reichsstatthalter um weiteren Schutz für diese Familie vor. Das Temperament jener Herrn war allerdings anders entwickelt als bei Richard Strauss, der seit den Tagen Wilhelms II. stillhielt, um Wohlwollen und finanzielle Zuwendungen gigantischen Ausmaßes einzuheimsen. Die Manager besaßen nichts von seiner Gelassenheit, sie waren nervös und tatendurstig. Nun, da die ersten großen Rückschläge allgemein ruchbar wurden, dachten sie daran, wie die sturen Parteileute in ihrem selbstgefälligen Denken zu erschüttern und für Reformen zu gewinnen wären, die zu einer allgemeinen Läuterung und damit zur Wiedergewinnung innerer Stärke führen könnten. Der aus dem Rheinland importierte oberste Kulturreferent des Reichsstatthalters, Walter Thomas, gehörte zu diesen Halbkritikern und sollte bald den Irrtum ihrer Gedankengänge am eigenen Leib verspüren. Im Generalreferat des Reichsstatthalters und in der Wiener Propagandaleitung tat sich Walter Thomas Anfang 1943 mehr Arbeit an, als zweckdienlich war. Seine großangelegte Verdi-Woche in Wien stand unter keinem guten Stern mehr, denn die Schwierigkeiten in Italien stiegen trotz der Ghibellinen-Treue, die zwischen Hitler und Mussolini obwaltete, rasch an. Noch durften viele in der Staatsoper zusehen, wie bei diesen Verdi-Feiern des April 1943 der herbeigeeilte Minister Alfleri mit Schirach intim tat, aber in privatem Kreise gab es bereits frostige Szenen.

Schon im Herbst 1942 hatten die von Thomas inspirierten Expositionen der Gaustadt, zumindest was' die Auswahl ihrer Schaustücke, betraf,

nicht ganz den allgemein gewünschten Normen entsprochen. Im Februar 1943 zogen sogar Bilder von Käthe Kollwitz und Egon Schiele in die Ausstellungsräume der Albertina ein. Fast gleichzeitig öffnete im Künstlerhaus die „Junge Kunst im Deutschen Reich“ ihre Pforten, und in der Sezession begann eine Klimt-Aus-stellung.

Unter den Wienern waren die Ambitionen bereits weitaus geringer, man verlegte sich auf klaglosen Subventionserwerb, aufs Hinausziehen und Verzögern, bis die Entscheidung auf den Schlachtfeldern auch in den Bereichen der Kunstanschauung spürbar werden würde. Für die Zwischenzeit war man lieber bereit, einen italienischen Zwangsarbeiter unter der Hand ins Atelier zu schleusen und dort künstlerisch schaffen zu lassen oder mit der branchenkundigen Witwe eines Rotspanienkämpfers Kontakt zu pflegen, Halbjuden insgeheim zu fördern und die Kriegsverpflichtungen zu umgehen.

Während also die Wogen rund um das Künstlerhaus hochschlugen, eilte Thomas donauaufwärts nach Klosterneuburg, um dort die Übernahme des Kunstbesitzes der Augustiner Chorherren in staatliche Obhut zu vollenden. Dieses Unterfangen hatte wenigstens das eine Gute, daß damit die allseits drohende Gefahr einer Verschleppung der Schätze in verschiedene Reichsrichtungen gebannt war.

Währenddessen gehen Wiener Philharmoniker mit dem Ratsherrn Jerger auf eine Konzertreise durch Dänemark und Schweden. Oben, im skandinavischen Norden, sollte das große Orchester unter Stabführung des international verehrten Furt-wängler eine wienerische Version brauner Reichsstärke demonstrieren. Daher wurde jedem Konzert der Donauwalzer angefügt. Schon vor der Abreise war von der Tourneeleitung manches Mißtrauen bei den damit beschäftigten Behörden in Wien und Berlin zu überwinden gewesen. Die Bedenken erwiesen sich bald als berechtigt, denn nicht alle Schweden akzeptierten die StraußMelodien als nationalsozialistisches Ausdrucksmittel. Der enorme Beifall galt mehr dem Wienerischen an sich und entbehrte nicht einer gewissen Spitze gegen das übrige Dritte Reich, zumal die diplomatischen Vertreter der Feindmächte geradezu demon-stratvi in den schwedischen Konzertsälen erschienen.

Mittlerweile erklärt der Exbürger-meister Blaschke in Wien, wie man sich im Osten kulturell engagieren müsse: „Ein Vergleich der Brücken und Straßenbauten der Vergangenheit mit den sorgfältig geplanten Strecken der Reichsautobahn zeigt die grundlegende Wandlung der Auffassungen im neuen Reich. Eine ähnliche Gesinnung muß nicht nur beim Bau der Häuser, bei der Gestaltung unserer Wohnungen und Einrichtungsgegenstände, sondern in allen Lebenslagen beachtet werden... Nach dem Sieg werden sich für das deutsche Kulturleben überhaupt ungeheure Aufgaben ergeben, da alle deutschen Volksgenossen, die in die neu eroberten Gebiete des Ostens ausziehen werden, dorthin als wichtigstes Unterpfand unseres arteigenen Wesens jene Gesinnung aus der Heimat mitnehmen müssen, die sie befähigt, im neuen Land Wurzeln unseres Volkstums zu schlagen, und so den Boden, den uns die heroischen Leistungen unserer Soldaten erobert haben, der deutschen Heimat auch seelisch für ewige Zeiten zu gewinnen.“

Knapp vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges waren die Ukrainer in Ostpolen unterdrückt worden, desgleichen in der Sowjetukraine, wo bereits Nikita Chruschtschow den entscheidenden Teil der Regierungsgewalt innehatte. Er trat im September 1939 als Befreier der Ukrainer in Ostpolen auf, wo die polnischerseits inhaftierten ukrainischen Nationalisten von den Sowjets freigelassen wurden. Die Entlassenen unterwarfen sich jedoch nicht den Machthabern in Kiew, sondern flohen zuerst zu den Deutschen.

Ihr wichtigster Mann sollte Stephan Bandera werden, der zweifellos in die Reihe jener unglücklichen Volkshelden gehört, die während und noch einige Zeit nach dem zweiten Weltkrieg eine Art von Dritter Kraft darstellen wollten.' Selbstverständlich wird Chruschtschow bei der Bekämpfung Banderas gebührend Anteil nehmen, doch selbst er wird Stalin später als Pseudo-Ukrainer verdächtig vorkommen. Die Zwistig-keiten der Ukrainer mit den Polen, den Russen, den Juden und untereinander (als Nationalisten oder Kommunisten) werden 1943 unter furchtbaren Greueln ausgetragen, wobei die Deutschen eine nicht minder schreckliche, wenn auch letztlich erfolglose Rolle als Herrenvolk zu spielen versuchen.

Am 12. Juli 1943 begann Rokossow-sky mit einer Feuerzusammenfassung, die zehnmal mehr Batterien als seinerzeit vor Verdun umfaßte, die Offensive. Die Deutschen räumten Orel und verkündeten, daß die Vorgänge in Italien daran schuld seien. Drei Wochen später fiel Charkow endgültig in russische Hand, südlich davon brach die Front von Taganrog bis Melitpol ein und im Mittelabschnitt konnte sich nicht einmal Smolensk halten.

In allen von der Wehrmacht preisgegebenen Gebieten setzt nun die Massenjagd auf Kollaborateure und die Entlarvung der braunen oder feldgrauen Administratoren ein. Die Kameraden des Wiener SS-Oberführers Hanns Blaschke müßten darüber genaueres wissen! Noch haben sie innerhalb der Festung Europa genügend Geiseln in der Hand, um mit diesem Faustpfand bedrängte Freunde oder Landsleute auslösen zu können. Doch mit Ausnahme eines im Ganzen wenig geglückten, geheimen Judenverkaufes aus Saloniki (und später aus Ungarn) wollten diese Tauschgeschäfte nicht zustande kommen. So werden Tausende zur Rechenschaft gezogen, während einige Kilometer weiter westlich die Verbrennungsöfen den Rest der deportierten Juden aus Wien, Prag und Berlin in Rauch • auf lösen. Der erwachte Frühling taumelte in den Sommer mit seinen unwiederbringlichen, zerplatzten Friedenschancen rund um den italienischen Zusammenbruch, und das Licht der Menschlichkeit drang nirgends durch das Dunkel.

Am 7. September 1943 überreichte ein von den Ereignissen unbeirrter Hitler über Vorschlag seines Reichsaußenministers v. Ribbentrop dem Wiener Gemeindeidol von 1938, dem Gesandten Dr. Hermann Neubacher, im Führerhauptquartier das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes. Auch Göring hatte Neubacher kurz vorher zur Vollendung des 50. Lebensjahres besonders herzlich gratuliert. Drei Tage später sagte sich der Poglawnik in Agram offiziell von den italienischen Gönnern los und ließ seine kroatischen Parteigänger mit deutscher Billigung in Istrien und Dalmatien eindringen. In den Bergen hinter Triest begann sich jene Konstellation abzuzeichnen, die bereits das Ende der jahrhundertealten venezianisch-italienischen Kolonisation andeutet, wenngleich die blutige Rolle, die der ehemalige Wiener Gauleiter Odilo Globocnik dort als Polizeichef spielen sollte, ihren kurzen Glanzpunkt noch nicht erreicht hatte. Globocnik war von Herzen froh, in Istrien ein neues Betätigungsfeld vorzufinden, hatten ihm doch die Geschäfte, die er im Raum um Lublin mit der dort gefangengehaltenen Judenschaft tätigte, das allerhöchste Mißtrauen und die Abberufung eingetragen. Sicherlich konnte er sich in Polen persönlich bereichern, aber sein Abgehen vom Massenmord und die Hinwendung zum Kommerz mit großen, deutschen Rüstungsunternehmen und deren jüdischer Arbeiterschaft kennzeichneten doch einen Frontwechsel angesichts der Lage, aus der viele einen Ausweg suchten.

Für die Alliierten brachte der Sommer 1943 deutlich das Ende ihres Anfangsstadiums an militärischen Erfolgen. So jedenfalls formulierte es W. S. Churchill bei seiner Ansprache an die siegreiche Armee Montgomerys in Afrika, wenngleich er verneinte, daß dies schon der Anfang vom Ende Deutschlands sei.

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