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Festtag, sonnige Stunde

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April. Warm und sonnig. Das Alpenvorland braun und grün auf den abgeaperten Südhängen, die nördlichen noch weiß von brüchigem Schnee. Die Bäche im Wiesenland blitzen im Licht. Morgens singt die Amsel.

Johannes sitzt am Balkon auf einem Stapel Brennholz. Er hat sich ein Küchensieb, das die Mutter zum Trocknen hinausgestellt hat, auf den Kopf gesetzt und hat eine Zweifelsfalte zwischen den hellen Augenbrauen. So tief, wie sie halt ein Bub im ersten Schuljahr haben kann. Er denkt sichtbar. In der Küche malt die vierjährige Barbara mit Holzbuntstiften einen Osterhasen mit riesigen Ohren. Der siebenjährige Martin hält den Kopf schief und betrachtet ein Ei, das er mit bunten Mustern bemalt hat, Streifen, Punkten und Zick-Zack-Linien. Er hilft der Mutter beim Eiermalen für den Osterstrauß.

Johannes schaut über die Wier sen, zu den nahen Waldstücken, auf den Bahndamm, der jenseits der Straße verläuft und auf dem zweimal am Tag eine dampf speiende schwarze Eisenbahn fährt, eine Rarität: die „Lechbrucker

Moosrutsche“, so genannt, weil sie die Leute, die ,4ns Moos“ fahren, zum Torf stechen bringt.

Tiefe Stille. Bis auf das unverwechselbare Gespräch der Stare, die im Hausgarten wichtig tun.

Johannes rutscht von der Holzbeige, daß ein paar Scheite nachprasseln. Alles, was er tut, ist mit äußerstem Einsatz verbunden. Er nimmt das Sieb vom Kopf.

Eine Weile sieht er den Malern schweigend zu. Barbara hält ihm ihren Osterhasen hin. Er lacht bis zu den Riesenohren.

Johannes nickt abwesend. Die Mutter sieht auf von ihrer Eiermalerei.

„Jetzt kommt er bald, der Osterhase.“

Die Falte zwischen Johannes' Augenbrauen wird tiefer.

„Selber Osterhase!“ sagt er verächtlich. Die Mutter legt den Pinsel hin und sieht ihn an.

„Was hast du gesagt?“ fragt sie, obwohl sie sehr gut verstanden hat. .

„Selber Osterhase, hab ich gesagt“, wiederholt Johannes, „das bist doch du mit den Eiern und den Nestern und allem.“

Er zeigt auf den Balkon. „Mit allem“ meint er die kleinen Überraschungen in der Zeit vor Ostern. Denn es kommt vor, daß plötzlich drei kleine Schokoladeeier am Balkon liegen, drei kleine Zuckerhasen, immer drei.

„Meinst du?“ fragt die Mutter den zweifelnden Sohn.

„Klar“, beharrt er, „immer, wenn du auf dem Balkon warst, hat der Osterhase was liegenlassen. Geh doch mal nicht mehr auf den Balkon, ob er dann auch noch was liegenläßt. Und überhaupt: ich hab den Osterhasen noch nie gesehen.“

„Das ist auch nicht so einfach“, sagt die Mutter, „er ist sehr scheu und sehr schnell.“

„Muß er j a“, sagt Martin, „wo er so vielen Kindern was bringt.“

Johannes wirft dem älteren Bruder einen unbeschreiblichen Blick zu. „Hast du ihn schon mal gesehen?“

„Nein, aber...“

„Na siehst du“, triumphiert Johannes, aber es ist ihm nicht wohl dabei. Barbara malt seelenruhig weiter. Für sie ist das alles überhaupt keine Frage. Natürlich gibt es den Osterhasen.

„Einmal will ich ihn sehen“, beharrt Johannes, „soll er sich doch mal sehen lassen.“

Die Mutter schiebt die drei Zuk-kereier in ihrer Schürzentasche etwas tiefer und sagt: „Das wird nicht so einfach sein.“ Mit dieser Auskunft ist Johannes ganz und gar nicht zufrieden. Maulend holt er seinen Schulranzen, knallt einen Stuhl an den Küchentisch und fängt mit seinen Rechenaufgaben an. Das geht sehr schnell und stimmt immer. Als er fertig ist, zieht er seinen Janker an.

„Ich geh noch Roller fahren.“

Das ist gut, denkt die Mutter, das ist eine Gelegenheit. Denn sie ist entschlossen, für den Osterhasen zu kämpfen. Ein Jahr noch — zwei? Das geht alles sehr schnell. -Sie wartet, bis die Wohnungstür zufällt, dann steht sie unauffällig auf, geht auf den Balkon, bückt sich und versteckt die Zuckereier in der Holzbeige, so, daß man sie noch etwas sehen kann. In diesem Augenblick fliegt die Küchentür wieder auf. Johannes! Die Mutter erstarrt. Aus ist's, denkt sie. Im nächsten Augenblick sieht sie einen Hasen - was Hasen: einen Riesenhasen, ein Prachtexemplar von einem Hasen — über den Bahndamm hoppeln.

„Der Osterhase!“ ruft sie laut.

Johannes rennt auf den Balkon, Martin und Barbara hinter ihm her. Sie starren den Hasen an wie eine Erscheinung. Der Mutter klopft das Herz bis in den Hals. Der riesige Hase, das Prachtexemplar von einem Hasen, baut ein Männchen. Jetzt hält es Johannes nicht mehr aus.

„Der Osterhase!“ schreit er. Der Hase macht einen Satz über den Bahndamm, schlägt ein paar Haken und saust wie ein Blitz über das Weideland, verschwindet in einem Waldstück.

„Der Osterhase“, sagt Martin fassungslos.

„Der Osterhase!“ quietscht Barbara und springt von einem Bein aufs andere.

„Der Osterhase...“ wundert sich die Mutter und schüttelt den Kopf.

„Und da liegt was!“ ruft Martin und greift nach den drei Zuckereiern. „Na?“ sagt er und boxt den Bruder in die Rippen. Der kaut nachdenklich, dreht sich um und schaut auf das Bahngleis, wo der Hase eben noch ein Männchen gebaut hat. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen ist verschwunden.

Die Mutter zieht sich unauffällig zurück. Für dieses Jahr ist der Osterhase gerettet.

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