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Feuerwehrmann Gandhi

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Noch vor zwölf Monaten stand Indien psychologisch dem Jahr 1947 nahe. Heute, am 38. Unabhängigkeitstag, scheint das Jahr 2000 greifbar zu werden.” Dieser Kommentar einer Tageszeitung zum indischen Nationalfeiertag Mitte August charakterisiert unmißverständlich den Szenen-Wechsel in der Innenpolitik des Subkontinents seit der dramatischen zweiten Hälfte 1984.

Besonders allerjüngste Ereignisse haben dem Inder gezeigt, daß mit den politischen Ränkespielen der letzten zwei Jahrzehnte Schluß gemacht werden soll. Rajiv Gandhi, seit acht Monaten Regierungschef seines Landes, versucht ein Problem nach dem anderen beiseite zu räumen.

Es sind keine nebensächlichen Sorgen, mit denen der 41jährige Polit-Neuling konfrontiert ist. Die Unruhen im nordwestlichen Bundesland Punjab haben zwei Religions-Gemeinschaften, die Sikhs und die Hindus, gefährlich gespalten. Mord und Totschlag gehören zum Alltag.

Das grausame Tun begann mit einem unbedeutenden Minoritäten-Komplex, der zusehends zum machtpolitischen Schlagball wurde. Und es endete als verhängnisvoller Bumerang für zwei der Hauptakteure, Premierministerin Indira Gandhi und den als gemäßigt geltenden Sikh-Führer Singh Longowal.

Longowal hatte zwar die Gewaltakte seiner Militanten nie verurteilt, und erst vor zwei Monaten war er bei einer „Ehrung” für den Extremisten Sant Bhindran-wale, dessen „Märtyrertum” auch Indiras Tod mitverursacht hatte, aktiver Teilnehmer. Dennoch setzte sich Rajiv Gandhi vor vier Wochen mit ihm an einen Tisch, gestand Punjab weitgehende Autonomie zu und versuchte, den Weg zu Ruhe und Ordnung in Indiens Nordwesten zu ebnen.

In den Augen radikaler Sikh-Kreise war Longowal bei seiner Ubereinkunft mit Gandhi aber zu weit gegangen. Sie schölten ihn „Verräter”, und vergangene Woche wurde er bei einem Revolverattentat tödlich getroffen. Die Aussöhnungs-Bemühungen Gandhis haben damit wohl einen schweren Rückschlag erlitten.

Auch Assam, der indische Nordosten, brennt. Und auch hier wehrt sich eine ethnische Minderheit gegen das politische Diktat der nationalen Mehrheit. Die mehreren tausend Toten, das Resultat der assamesischen Landtagswahlen von 1983, schienen von Delhis Machtarroganz einkalkuliert: das Gemetzel wurde vom eigenen Geheimdienst vorausgesagt.

Unlängst absolvierte Rajiv Gandhi einen seiner häufigen Nacht-Marathons, um zum Nationalfeiertag dem indischen Volk den Frieden in Assam zu verkünden. Das harte Geben und Nehmen zwischen ihm und den assamesischen Nationalisten endete morgens um drei Uhr. Um Halbacht hißte der Premierminister voller Tatendrang die Fahne der Nation.

Indira Gandhis Begriff von Völkerverständigung (ihr Motto war „Einheit in der Mehrheit”) gipfelte im Sommer 84 in der willkürlichen Absetzung der Minderheiten-Regierungen in Kaschmir und Andhra Pradesh, zweier gewählter Vertreter eigenständiger Volkskulturen im Norden und Süden Indiens.

Noch heute regiert im Himala-ya-Hochtal eine unter den dortigen Muslimen höchst unbeliebte Kongreß-Marionette. Doch die Zeichen mehren sich, daß Kaschmir bald zum Schauplatz von Rajiv Gandhis drittem Kraftakt wird.

In Andhra mußte bereits Mutter Indira einen Rückzieher machen - mit viel Widerwillen. Rajiv, dessen Kongreß-Partei weiterhin die Oppositions-Bänke drückt, unternahm keinen einzigen Versuch, in die regionale Eigenständigkeit des Südens zu intervenieren.

Im westindischen Staat Gujarat schließlich wollte der dortige Chef minister Solanski durch völlig unhaltbare Versprechen an die rückständigen Gesellschaftsschichten ein „kleines Japan” bauen. Die Mini-Wirtschaf tsrevo-lution hatte zum Ziel, die oppositionelle Elite und die kritische Intelligenz zu isolieren und durch höriges Fußvolk zu ersetzen. Blutige Studenten-Demonstrationen waren das Ergebnis.

Auch in Gujarat schritt Rajiv Gandhi, diesmal gegen seine eigene Mannschaft, ein und löschte durch seine „good will”-Zeichen an die Gegner das ärgste Feuer.

Auf alle diese nationalen Rettungsaktionen angesprochen, stellte der junge Regierungschef kürzlich in einer Pressekonferenz nüchtern fest: Weder Sozialismus noch Föderalismus gehörten zu seiner politischen Grundhaltung. „Ich arbeite für das Wohl des Landes!”

Indiens neuer Premierminister ist also vor allem mit innenpolitischer Aufräumungsarbeit beschäftigt. Erst auf der Grundlage dieser neuen Ordnung kann er das 21. Jahrhundert aufbauen, von dem er so oft spricht. Die ersten Schritte in der Richtung lassen darauf schließen, daß der Mut auch zum unpopulären Entscheid nicht fehlt.

Kalkuttas renommierte Tageszeitung „Telegraph” sieht gerade in dieser, Jlisikof reudigkeit, politische Erfolge und nicht kleinkrä-merisches Machtdenken” zum Grundstein seiner politischen Karriere zu nehmen, Rajiv Gandhis „staatsmännische Größe”. Und hier erblickt die Zeitung auch den Wendepunkt zwischen Indiens Kolonialherrschaft und deren Erbe und dem Zukunftsdenken eines unbelasteten Liberalismus.

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