7005038-1987_39_16.jpg
Digital In Arbeit

Fiesta der Worte

Werbung
Werbung
Werbung

An einer der Fronten des Krieges gegen den Analphabetismus in Lateinamerika marschierte eine Elitetruppe auf: Oc-tavio Paz, Breyten Breytenbach, Rita Dove und zweiunddreißig weitere Poeten verhalfen dem geschriebenen Wort eine Woche lang zu ungeahnter Aufmerksamkeit. Die Lesung des Mexikaners Jaime Sabines glich einem Rockkonzert — ein jubelndes Publikum applaudierte eine Zugabe nach der anderen heraus.

Im Gastgeberland Mexiko waren und sind 40 Prozent der Bevölkerung von vorneherein von jeglichem Poesie-Genuß ausgeschlossen, da es ihnen (laut „Congreso de Trabajo“) am kulturellen Existenzminimum fehlt. Ein weiterer riesiger Prozentsatz hält sich an billige Heftchen, die zu Millionen verkauft werden: Comics, Fotoromane und dergleichen mehr. In der 20 Millionen-Stadt Mexico City werden selbst die ganz großen, renommierten Zeitungen in Auflagenhöhe von bloß einigen Zehntausend vertrieben. So konnte selbst die große Aufmerksamkeit, die die Medien dem Poetentreffen widmeten, nicht viel an der kulturellen Ausgangslage ändern.

Damit steht Lateinamerika nicht allein. Rita Dove, Gewinnerin des Pulitzer-Preises für Poesie und eine Vertreterin der Fern-seh-Superrrtacht USA bei diesem Festival, drückte ihre Besorgnis über die allmächtige Suggestivwirkung der elektronischen Medien aus und meinte, die Poesie werde mehr und mehr zu einem exklusiven Vergnügen der Elite.

Dove, selbst Farbige, ortet in der zunehmenden Unfähigkeit zur Kommunikation eine mögliche Ursache für den Rassismus und in der Poesie eine mögliche Medizin, weil Poesie unter anderem tiefgehende Kommunikation über Gruppengrenzen hinweg ermögliche.

Eine andere „Medizin“ wird im Gastgeberland Mexiko ausprobiert: In ihren Sommerferien fuhren 13- bis 18jährige Schüler aus der Hauptstadt in die Provinz, um als „Alfabetizadores“ zu wirken. Dabei wurden zuweilen ganz andere Grenzen als die bisher erwähnten überwunden; zum Beispiel, wenn eine achtzigjährige Frau beschließt, endlich Lesen und Schreiben zu lernen und Unterricht bei einem der blutjungen „Alf abetizadores“ nimmt. Letztere gaben übrigens zu, sie hätten vom „einfachen Volk“ eigentlich mehr gelernt als das „einfache Volk“ von ihnen — für die Stadtkinder aus Mexico City eine aufregende, neue Erfahrung.

Das Poeten-Festival selbst war eine interessante, jedoch keineswegs neue Erfahrung für das an Kultur so überreiche Mexiko. Der heurigen „Fiesta des Wortes“ gingen einige gleichartige Veranstaltungen im mexikanischen Bundesstaat Michoacan sowie an der autonomen Universität von Mexico City voraus. Die Freigeister trudelten - natürlich - umgehend in politische Schwierigkeiten.

Umso überraschter und erfreuter war die veranstaltende „Aso-siaciön Poetas Mexicanas“, als sich die Regierung des „Distrito Federal“ (Mexico City) bereit erklärte, das „Teatro de Mexico“ für das Festival zur Verfügung zu stellen und ideelle Unterstützung zu gewähren. Das Geld für ihre Poesie-Woche mußten sich die heimischen Poeten freilich selbst auftreiben.

Trotzdem ist die Großzügigkeit des „Distrito Federal“ nicht zu unterschätzen. Die Dichter nahmen sich selbstverständlich politisch kein Blatt vor den Mund. An den Präsidenten der Republik, Miguel de la Madrid, verfaßte die versammelte Poetenschar einen Brief, in dem sie — halb aufmunternd, halb kritisierend — verlangt, Mexiko möge zum Anführer im Kampf gegen die Umweltzerstörung in Lateinamerika werden — ein höchst notwendiger Appell in einer Stadt, deren zwei Millionen Autofahrer und 10.000 Industriebetriebe für gesundheitsgefährdende Smogwolken sorgen.

Auch manche Bezüge zum Ausland waren klar und deutlich. Einer, der aus seinem Land nicht hinausdurfte, um an dem Festival teilzunehmen — Nicanor Parra aus Chüe —, sagte mit seiner Abwesenheit mehr als jedes politisches Traktat. Einer, der nicht mehr in sein Land zurückdarf — Breyten Breytenbach aus Südafrika -, setzte seinen verbalen Kampf gegen die Apartheid fort. Schließlich sah sich einer, der sowohl weg- als auch wieder zurückdurfte — Tom Pickard aus England -, bemüßigt, ein paar unpoetische Breitseiten gegen die britische Premiermimsterin Thatcher loszuschießen.

Wie es um die Poesie im allgemeinen steht, wurde ebenfalls erörtert. Günter Kunert aus der Bundesrepublik übte sich in dumpftrübem Pessimismus: In der deutschen Poesie, meinte er, flackere nicht das kleinste Flämmchen der Hoffnung, die Poesie sei schwarz, dunkel, die Poeten würden mit jedem Tag mehr zu „Sängern der Apokalypsen se .

Ausgerechnet in die „Woche des Wortes“ fiel der Tod eines der bedeutendsten lateinamerikanischen Dichter, des Brasüianers Carlos Drummond de Andrade. Die Werke des 1902 in Italien geborenen Autors—mehr als vierzig Bücher — wurden in mehrere Sprachen übersetzt und nahezu in der ganzen Welt herausgebracht.

Octavio Paz, dem großen mexikanischen Poeten, blieb es überlassen, die traurige Nachricht zu verkünden: „Die Augen stets in den Worten / Stets Worte in seinen Augen / Die Augen schließen sich / Die Worte öffnen sich.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung