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Fliehen vor den Spuren der Medusa

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Älter geworden, betreten der Mann und die Frau ein Museum, dessen Besuch nicht vorgesehen war wie der Besuch der Stadt, die gemeinsam zu bereisen sie sich seit langem vorgenommen und ausgemalt haben.

Auf dem Weg ins Zentrum von schauerartigem Regen überrascht, es ist Sonntag, nehmen sie Zuflucht, erst unter dem vorgelagerten Säulengang, wähnend, es sei die Villa Borghese, dann im Vestibül, wo sie geradezu erleichtert zur Kenntnis nehmen, daß das Museum geöffnet ist.

Älter geworden und vieles irgendwo schon gesehen habend, verziehten sie zu Anfang auf die Hauptausstellung, die Bilder jener „Deutschen Römer“, die jemand aus anderen Museen hierher versammelt und zusammengetragen hat, such ist durch das den Regenschauer begleitende Gewitter ein Teil derBeleuch-tung ausgefallen und halten sich rechts, um den Bestand an Bildern der internationalen, aber auch der nationalen und lokalen Moderne zu besichtigen, ohne Anspruch auf genaues Studium, sondern von spontanem Interesse und aufkeimender Sympathie sich anlocken lassend und dabei ein Spiel spielend, dem sie, älter geworden, zusehends verfallen, ein Spiel, das man dadurch zu erklären beginnen müßte, daß man es eines ohne feststehende Regeln nennt, kein Spiel im strengen Sinn also, eher spielerisches Verhalten, das nicht nur die ausgestellten Bilder, sondern auch die sie Betrachtenden als Ausgestellte in den Bückwinkel einbezieht, inso-feme also Besichtigende und Besichtigtes zusammen der Beurteilung unterwirft.

Alter geworden, aber ihrer Cremeinsamkeit noch nicht müde, haben der Mann und die Frau begonnen, einander nicht nur über sich selbst, sondern über die Welt zu verständigen, mit Hilfe ebendieses spielerischen Verhaltens, der Außenstehenden willkürlich erscheinen mögenden Zuordnung von Wörtern und Worten an Personen und Gegenstände, eine Zuordnung, die ihren jeweiligen Erfahrungswelten entspringt, die sie dadurch miteinander zu verknüpfen bemüht sind, vielleicht um sich so rückwirkend eine Gemeinsamkeit auch der Vergangenheit zu erspielen, die den tatsächlichen Lebensläufen nach nicht gegeben ist. Sie kennen einander erst seit sechs Jahren, erheben aber, ihrem Alter gemäß, Anspruch auf eine viel weiter zurückreichende gemeinsame Vergangenheit.

So eröffnet der Mann nun der Frau durch ein einzelnes geflüstertes Wort „Phönizier“ einen Ausschnitt von Welt, den sie, im Rückgriff auf alles, was sie über Phönizier weiß, auf einen Mann überträgt, der seines als phönizisch gelten dürfenden Aussehens wegen als einziger in dem Saal gemeint sein kann, und dem sie nun sogleich Meererfahrenheit und Geschick im Umgang mit Handelspartnern, aber auch entsprechende Beredsamkeit und eine Schwäche für Luxus in alltäglichen Dingen -sein Schuhwerk und die Uhr, die er trägt, scheinen das längst vorgefaßte Urteil bestens zu bestätigen — zuschreibt und das junge Mädchen, dem der „Phönizier“ ein Bild von Feruccio Ferrazzi „Carosello“ erklärt, halb beneidet, halb aber auch schon bedauert, wie es sich so offenkundig gegen das ihr wohl mehr Eingeredete als Erklärte zu wehren vorgibt, in Wirklichkeit aber empfängnisbereit dasteht, ein gezähmtes Fischotterweibchen, das die Bewegung des Zubeißens nur noch andeutungsweise gegen die Hand des Bändigers vollführt, die sich langsam aber beharrlich nähert, um es am Hals, den es ihm nun ungeschützt, wie zum seinerseitigen Zubiß, noch ein wenig zitternd hinhält, zu streicheln, während das vermeintliche „Karussell“ sich in seinen Farben weiterdreht.

Kein allzu geglücktes Bild, so k lau tet zumindest der geblickte Kommentar des Mannes, wohingegen sich die Frau bereits einem anderen Bild, das sie anziehender findet, zugewandt hat, wissend, daß sie dem „Phönizier“ und seinem Fischotterweibchen noch mehrmals begegnen werde, auch das eine Erfahrung, die sie durch viele Museumsbesuche bestätigt gefunden hat.

Eingespielt, wie ihre Bücke nun schon darauf sind, geben sie einander zu erkennen, welches der betrachteten Büder sie auch in einem imaginären gemeinsamen Haus zu sehen wünschten, wobei sie nicht immer ein und desselben Geschmacks sind, Bedingung aber für die Aufnahme ins imaginäre Haus ist ihrer beider Gefallen, daher auch der fragende Bück der Frau nun vor dem Bild „Figura di donna“ eines Malers namens Antonio Donghi, öl auf Leinwand, aus dem Jahr 1932, ein Blick, der von dem des Mannes anfänglich mit Verblüffung, dann aber mit einem leichten, unschlüssigen Wiegen des Kopfes beantwortet wird.

Die Glätte des Bildes würde jeden Tropfen sogleich abrinnen lassen, ihn sozusagen mit den Farben von sich leuchten. Eine dermaßen kompakte Oberfläche, wie nur reine, starke Farben sie zuwege bringen, sodaß kein Spalt bleibt, nicht der geringste, der eine Ahnung vom Inneren des Bildes, seinem geheimen Inneren zuließe.

Vor dem orangeroten Hintergrund die Figur einer jungen Frau mit dunkelgraublauen Augen und schwarzem kurzem Haar, das ihr in einer großen Wasserweüe halbseitig in die Stirn fäüt. Sie trägt ein dunkelgrünes enganliegendes Jäckchen mit weißem Rüschenbesatz und einen heügrünen Rock, der nur bis zum Beginn des Tisches zu sehen ist, auf dem eine weiße, doppelt gebauchte Vase steht, mit rosa, roten und gelben Röschen

Schwer zu sagen, was sie, älter geworden, an diesem glatten, beinah schreienden Bild einer Frau, dessen Farben eine Art von Erregung auf sie übertragen, so anzieht, und so gar nicht ihren sonstigen VorÜeben entspricht

Der Mann nähert sich ihr und dem Bild von verschiedenen Seiten, legt sogar den Arm um die Schulter der Frau, wie um besser sehen zu können, was sie sieht Denn, älter geworden, hat er auch längst verstanden, daß die Antwort weniger in dem Bild selbst, als möglicherweise in der Haltung, die die Frau vor dem Bild jener anderen Frau eingenommen hat, zu finden sein würde. Frage und Antwort, die sie beide zu einem leisen, fast gleichzeitigen Aufseufzen, Zeichen der Anstrengung des Entschlüsselnwoüens, veranlaßt.

Im Weitergehen, und bereits in einem anderen Saal, aus dem aber seiner Querläufigkeit wegen noch immer der Blick auf das „Bild einer Frau“ mögüch, wenn auch nicht zwingend ist, erschreckt die Frau den Mann mit einem jener Spielworte, die zu sagen sie sich angewöhnt haben und die sie Personen und Gegenständen zuordnen, ihnen so eine Bedeutung unterstehend, die sie zum Weltausschnitt macht, sie zu einer Geschichte kristallisieren läßt.

„Medusa“, flüstert die Frau, den Mann am Arm festhaltend und ihm so unwillkürlich die Richtung weisend, während der Blick des Mannes auf ein Wesen fällt, ein tatsächlich im Raum als Körper vorhanden seiendes Wesen, auf das dieses Wort als im höchsten Maße zutreffend zu gelten hat Mit halb geöffneten violetten Lippen und jenem Schlangenhaar, wie er es, älter geworden, schon auf vielen Darsteüungen erbückt hat, versteUt ein Gesicht ihm den BÜck, dessen vorgewölbte und dennoch wie gebrochen wirkende Augen er sofort zu fliehen hat, will er nicht Schaden nehmen. Und als er sich ein wenig zur Seite neigt, f äUt sein BÜck noch einmal auf das „Bild einer Frau“, und er hätte fast aufgeschrien, die Ähnlichkeit erkennend zwischen der Schönen und der Häßlichen Das ist die Antwort Und ihm kommt es so vor, als öffne auch die Frau auf dem Bild ihre kleinen roten Lippen auf dieselbe Weise wie jene zwischen ihm und dem Bild sich formierende, starrende Moderne.

Da hat auch die Frau, die noch immer seinen Arm hält, den Zusammenhang begriffen und, älter geworden sie beide, unternehmen sie die gegenseitige Rettung, indem sie sich im letzten Moment einander zukehren

„Süchtig“, sagt der Mann, aus seinem tiefen Erschrecken zurückkehrend und dieses mit einem zeitgemäßen Wort lindernd, während die Frau für einige Zeit die Augen schließt, um auch die geringste Spur von Medusa in sich zurückzunehmen Nie und nimmer darf sie zulassen, daß sie aneinander versteinern

Als der Mann und die Frau das Museum verlassen, hat es zu regnen aufgehört, und sie steigen, älter geworden, langsam die breiten Treppen des Parks empor, dessen andere Seite sanft gegen das Tor zu jenem Platz der Pappeln hin abfällt, zu dem sie von Haus aus gelangen wollen.

Leicht gekürzt aus dem Band „Mörderische Märchen“, der demnächst im Residenz-Verlag, Salzburg, erscheint

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