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Digital In Arbeit

Fließband produziert auch Alkoholiker und psychisch Kranke

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Das gesellschaftspolitische Interesse an den Strukturen der Arbeitswelt konzentriert sich auf das Phänomen der Arbeitsteilung. Wir kennen die Auswirkungen: Wennkomplexe Arbeiten in einfache Elemente aufgelöst und jeweils einem Arbeiter zugeteilt werden, entstehen zwei ökonomische Effekte. Einerseits wächst die Produktivität, weil der Ausstoß zunimmt, andererseits sinken die Arbeitskosten, weil für diese Tätigkeiten Arbeiter mit geringeren Fähigkeiten eingesetzt werden können. Eine Übertragung dieses Prinzips auf Maschinen, die von ungelernten Arbeitern bedient werden, führte zur Produktion am Fließband und auf den automatisierten Fertigungsstraßen. Die Erfahrungen, die damit gemacht wurden, sind in zweierlei Hinsicht bemerkenswert:

1. Ein amerikanischer Regierungsbericht über „Arbeit in Amerika” aus dem Jahre 1972 stellt tiefgreifende Unzufriedenheit unter den amerikanischen Arbeitern und Angestellten fest. Am tiefsten sitzt die Unzufriedenheit bei den Arbeitern am Fließband und automatisierten Fertigungsstraßen der Automobilindustrie. Dem Bericht zufolge zeigen rund 40 Prozent der Automobilarbeiter psychische Krankheitserscheinungen und bis zu 25 Prozent sind sogenannte Arbeitsalkoholiker. Die starren, undurchschaubaren Arbeitsstrukturen und die Unmöglichkeit, ein persönliches Leistungsund Erfolgserlebnis zu haben, führten einerseits zu apathischen und passiven Verhaltensweisen, andererseits zu Aggressionen. So verließen bei General Motors ganze Serien demolierte Autos die Fließbänder, bei General Food wurden die Produkte mit Farbe vergiftet.

Diese Gerichte zeigen uns die Grenzen einer arbeitsteiligen Produktion. Sie werden durch Indikatoren, wie Fluktuationsquoten, Fehlzeiten, Ausschußprozentsätze, Bummelaktionen, gezielte Sabotage und der Notwendigkeit mit Personalüberbelebungen bis zu 25 Prozent über die Planstellung hinaus arbeiten zu müssen, um die Fehlzeiten kompensieren zu können, erfaßt.

2. Das Prinzip der Spezialisierung nutzt nur einen kleinen Teil der menschlichen Fähigkeiten und verhindert persönliches Wachstum. Es hat sich herausgestellt, daß es in Zukunft notwendig sein wird, Menschen im Arbeitsprozeß zu haben, die nicht nur Teil-Fertigkeiten beherrschen, sondern den gesamten Arbeitsprozeß verstehen und im Auge haben. Einerseits soll dadurch das menschliche Kreativitätspotential aktiviert werden, das eine wichtige Voraussetzung für die Innovationsbereitschaft eines Unternehmens ist. Andererseits geht es darum, eine Gesellschaft der Lebensqualität zu verwirklichen, wozu der Versuch gehört, von der strengen Arbeitsteilung wegzukommen, um eine integrierte menschliche Aktivität, die Selbstverwirklichung zuläßt, entwickeln zu können.

Hier liegt letztlich der Ansatz für alle Versuche, das Arbeitsleben zu humanisieren und eine Entwicklung von der quantitativen zur qualitativen betrieblichen Sozialpolitik einzuleiten: Und hier liegt auch der Schlüssel für das Freizeitverhalten vieler Arbeitnehmer. Wer gewohnt ist, im Betrieb nur Anweisungen zu befolgen oder genau vorbestimmte, keinen Entscheidungsspielraum zulassende Arbeiten auszuführen - von dem kann nur in beschränktem Maße erwartet werden, daß er in der Freizeit plötzlich aktiv, kreativ und entscheidungsfreudig ist. Es bestehen somit zwischen der Qualität des Arbeitslebens und der allgemeinen Lebensqualität enge Zusammenhänge. Wer immer menschliche Arbeit strukturiert - er wird verantwortlich für einen weiteren Teil menschlicher Lebensgestaltung.

Aus diesen Überlegungen heraus begann man in den letzten Jahren in den verschiedenen Ländern neue Formen der Arbeitsorganisation zu entwickeln. Durch Arbeitsplatzwechsel (job rotation) innerhalb von Abteilung und Firma sollen Monotonie-, Ermüdungs- und Sättigungserscheinungen abgebaut werden. Durch Arbeitserweiterung (j°b enlargement) werden anstatt eines einzigen Arbeitsvorganges mehrere Arbeitsgänge hintereinander erledigt.

Die Anreicherung ausführender Tätigkeiten mit Planungs-, Gestaltungsund Kontrollaufgaben soll dazu dienen, die Zersplitterung und übertriebene Spezialisierung der Arbeit zu beseitigen und Arbeitsplätze mit mehr „Inhalt” zu schaffen (job enrichment).

In teilautonomen Gruppen schließlich werden Führungsaufgaben auf die Arbeitsgruppe übertragen, so daß Arbeitsabläufe eigenständig geplant, ausgeführt und kontrolliert werden können.

Die Erfahrungen mit diesen Modellversuchen zeigen, daß es nicht genügt, monotone Arbeiten durch zusätzliche sinnlose Tätigkeiten zu ergänzen. Ebenfalls ist es nicht zielführend, eine Rotation zwischen Arbeitsplätzen vorzunehmen, die im Inhalt und Ablauf ähnlich gelagert sind. Auch der Versuch, schwierige Aufgabenbereiche zu eliminieren, um die Produktion zu erhöhen, kann gerade zur Ausschaltung der interessantesten Arbeitsteile führen.

Der am meisten Erfolg versprechende Weg scheint somit darin zu liegen, Arbeitsplätze zu schaffen, die inhaltlich anspruchsvoller sind. Dies kann durch Einbau zusätzlicher Aufgaben in bestehende Arbeitsabläufe oder durch Neukonzeption der Arbeitsorganisa-

tion erreicht werden. Wenn man sich zur Gruppenfertigung entschließt, muß die zukünftige Arbeitsgruppe auf die neuen Aufgabenbereiche vorbereitet werden.

Soweit - etwas vereinfachend - die Theorie. In der Praxis ergeben sich bei der Umsetzung solcher Humanisierungskonzepte viele menschliche Barrieren. Es sind dieselben Hemmnisse, die sich jeder Neuerung in den Weg stellen: Menschen entwickeln Widerstände gegen Veränderungen, weil das Gewohnte ihnen vertraut und die Änderungen mit Unsicherheiten belastet sind.

So ist die Humanisierung der Arbeitswelt in letzter Konsequenz nicht nur ein betriebsorganisatorisches, sondern vor allem ein pädagogisches Problem.

Aus der gesellschaftspolitischen Perspektive ist die Zeit reif für eine Weiterentwicklung der Arbeitsorganisation. Durch den arbeitstechnischen Fortschritt der letzten Jahrzehnte gelang es, viele materielle Bedürfnisse der Arbeitnehmer abzudek- ken. Darauf aufbauend entstand der Wunsch nach Arbeitsplätzen, die ein Leistungs- und Erfolgserlebnis zulassen, persönliches Wachstum und damit mehr Selbstverwirklichung ermöglichen. Diese Ansprüche stellen eine große Herausforderung dar: Eine Herausforderung, die nicht allein mit einem Aktionsprogramm bewältigt werden kann, sondern zur ständigen Aufgabe für die Unternehmensleitung, die Arbeitnehmer, die Gewerkschaften, Politiker, Betriebspsychologen und Soziologen wird.

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