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Flucht in die Kunst

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Unaufhaltsam verfällt Venedig. Der schleichende Tod der „Serenissima“ ist eklatant und nicht mehr wegzudiskutieren. Was nützt es, wenn gewisse europäische Länder in einer Anwandlung von Nostalgie sich einiger markanter Gebäude erbarmen und diese restaurieren —wie es etwa die Engländer mit ihrer Lieblingskirche Madonna delt Orto oder die Franzosen mit der Fassade der wuchtigen Maria della Salute gerade getan haben? Wer schert sich schon ernsthaft um die zähen Proteste eines venezianischen Bürgermeisters, der seine Stadt vorläufig noch vor dem dritten Industriegürtel bewahren konnte?

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Unaufhaltsam verfällt Venedig. Der schleichende Tod der „Serenissima“ ist eklatant und nicht mehr wegzudiskutieren. Was nützt es, wenn gewisse europäische Länder in einer Anwandlung von Nostalgie sich einiger markanter Gebäude erbarmen und diese restaurieren —wie es etwa die Engländer mit ihrer Lieblingskirche Madonna delt Orto oder die Franzosen mit der Fassade der wuchtigen Maria della Salute gerade getan haben? Wer schert sich schon ernsthaft um die zähen Proteste eines venezianischen Bürgermeisters, der seine Stadt vorläufig noch vor dem dritten Industriegürtel bewahren konnte?

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Ein lächerlicher Aufschub, der kaum zählt, angesichts giftiger, luftverpestender Rauchschwaden, die ein ungünstiger Wind nur allzu häufig vom riesigen Industriezentrum Mestre auf dem nahen Festland über die Lagune treibt. Die Fronten herrlicher Palazzi verrotten zusehends; längst sind ihre Besitzer fortgezogen, und das von Motorbooten und Vapo- retti pausenlos aufgewühlte Wasser rüttelt unaufhörlich an den Fundamenten, über denen sich in nächtlicher Dunkelheit unbeleuchtet, drohend und gespenstisch majestätische Gebäude erheben, die stellenweise den Eindruck einer Ruinenlandschaft erwecken. Ganze Wohnviertel verwaisen, nur herrenlose Katzen huschen durch die sonderbarerweise nur mäßig verschmutzten Gassen, die kaum eines Touristen Fuß durchstreift.

Die UNESCO hat vorläufig neun Milliarden Schilling für die Sanierung der Stadt zur Verfügung gestellt. Eine davon ist immerhin bis nach Venedig gelangt und wurde dort von einer Handvoll dubioser Parteipolitiker sofort eingesteckt. Der Rest liegt auf einer römischen Bank und wird voraussichtlich sein Ziel nie erreichen. Von den Zinsen lassen es sich heute bereits etliche Dunkelmänner Wohlergehen…

Das Teatro la Fenice ist pleite und wird r— trotz eines plakatierten Konzertspielplanes, der sowieso schon als Opemersatz vorgesehen war — seine Pforten in der kommenden Saison kaum öffnen. Einige angekündigte

Veranstaltungen sind bereits ausgefallen. Italienische Banken geben dem Haus, das bei ihnen heute schon mit zehn Milliarden Lire in der Kreide steht, keinen Kredit mehr.

Über die Tragödie Venedigs wird man in Kürze Bestseller schreiben, die vermutlich wieder einigen wenigen zu Millionenreichtum verhelfen. Davon aber wird die Stadt nicht gerettet, das ist ja wohl auch gar nicht mehr ernsthaft angestrebt. Was kümmert schon die lebende Generation — hier wie dort — eine verheerende Zukunft? „Nach uns die Sintflut!“ Das ist der makabre Standpunkt der sogenannten modernen Zivilisation.

Desto erstaunlicher muten vereinzelte Anstrengungen heroischer künstlerischer Initiatoren an, den Aufenthalt in Venedig wenigstens vorübergehend attraktiv zu gestalten. Eine Art Schrumpf-Biennale war für den Herbst vorbereitet, und bis November konnte man im Dogenpalast die eindrucksvolle Ausstellung „Venedig und Byzanz“ bewundern : Eine Konfrontation von Ost- und West-Rom, die nicht nur auf erlesene Exponate — Handschriften, Skulpturen, Fresken, Email-, Elfenbein- und Goldschmiedearbeiten, „Pale d’oro“ aus ganz Italien, ja, England, Deutschland und Rußland beschränkt bleibt, sondern ihre lebendigen Dokumente in den Kirchen und Palazzi und an etlichen Fassaden der Stadt demonstriert.

Eine weitere Sensation ist die Antiquitätenmesse „Tesori d’Arte a Venezia“ in zwei Stockwerken des Pa lazzo Grassi, einem herrlichen Barockbau von Giorgio Massari (1745) mit bezaubernden Fresken venezianischer Maskenspiele im festlichen Treppenhaus. Die bedeutendsten Firmen und Privatgalerien Italiens sind hier mit weit über 5000 Exponaten vertreten. Schwere Barockmöbel im venezianisch-lombardischen Stil stehen neben zierlichen Rokoko-Garnituren, deren französischer Einfluß unverkennbar ist. Kunstvolles Rahmenschnitzwerk macht allein ein großes Spiegelkabinett sehenswert; eine Turiner Firma hat sich auf kostbare Stand- und Tischuhren Ludwig XV. spezialisiert. Genrebilder von To- deschini hängen neben atypischen Gemälden von Guardi und Carriera; zwischen Karikaturen ‘von Tiepolo kann man einen 20teiligen Schrek- kenszyklus von Goya bewundern. Zierliche Nippesfiguren, Fayencen, Kacheln, graziöse Porzellanservice und Kristallkelche, getriebene Silberarbeiten sowie antiker Schmuck werden neben fernöstlichen Waffen, Seidentapisserien und erlesenen Gebrauchsgegenständen zum Verkauf angeboten. Zwischen sakralen Holzskulpturen, Chorgestühlen und Kamingittern der Renaissance und des Rokoko finden sich gelegentlich kitschige Kolossalschinken in öl aus der Zeit der Jahrhundertwende. Mit ungeheurer Akribie und dem sichtbaren Willen, Reichtum und Anspruch zu präsentieren, wurde hier eine fast erdrückende Fülle von Schätzen zusammengetragen, die den Betrachter in seinem kunsthistorischen Orientierungswillen überfordert. Trotzdem bleibt das merkantile Bemühen, das dieser „Mostra“ zugrunde liegt, anerkennenswert.

Als liebenswürdiger Abschluß wird dem Besucher am späten Abend ein Kammerkonzert der „Musici Baroc- chi“ mit Werken des Venezianers Vi- valdi im säulengeschmückten Vestibül des Palazzo Grassi geboten. Erst seit einem Jahr besteht diese sehr junge Solistenvereinigung von Damen und Herren, aber ihre Leistungen sind von staunenswerter Kunstfertigkeit und Akkuratesse. Während die weichen Harmonien und virtuos gebrachten Figuren im stimmungsvollen Halbdunkel durch die hohen Arkaden des solennen Schauplatzes schwingen, überhört man das sanfte, verzehrende Plätschern des Canal Grande vor den schmiedeeisernen Pforten und vergißt für Stunden das unerbittliche Schicksal der faszinierenden sterbenden Stadt.

Auch das benachbarte Padua, im Zweiten Weltkrieg stark zerstört, heute ein turbulenter, reizloser Platz für Handel und Industrie mit wenigen historischen Sehenswürdigkeiten, profitiert von Venedigs Kunstinteressenten. Um diese anzulocken, präsentiert die Stadt ihre glücklichste Epoche der Malerei in der Ausstellung „Von Giotto bis Mantegna“, einem Zeitraum vom Anfang des 14. bis etwa zur Mitte des 15. Jahrhunderts. Der Schauplatz einer kunsthistorisch wohlfundierten, ausgezeichnet zusammengestellten Exposition ist der „Palazzo della Ragione“, ein riesiger Saal mit Kielgewölbe und -dach von Fra Giovanni degli Eremizani (13./14. Jahrhundert). Die Freskendekoration des Inneren, die ursprünglich von Giotto stammte, der hier die astrologischen Theorien des Pietro d’Abano dargestellt hatte, wurde nach dem Brand von 1420 von Nicold Miretto und Stefano da Ferrara erneuert.

Etwa neunzig Exponate (Tafeln, kunstvoll abgelöste Fresken und Ölgemälde, Skulpturen, Handschriften, Münzen, Medaillons und geistliche Gefäße), vermitteln hier einen umfassenden Eindruck der reichsten Epoche Paduas. Giottos Hauptwerk, der Freskenzyklus der „Capella di Scrovegni“, ist als Ergänzung gesondert zu betrachten. In der „Sala della Regione“ ist der Meister nur mit einem mächtigen, doppelseitig bemalten Holzkreuz vertreten. Den Zentralpunkt der Ausstellung bildet der Padovaner Quariento mit zahlreichen Fresken und Tafelbildern, der für mehr als zwanzig Jahre die heimische Malerei repräsentierte. Die rhythmische Reihung seiner komple-

xen Engelgruppen sowie deren zyklische Darstellung besitzt die typischen Merkmale italienischer Gotik und weist verwandte Züge mit Veneziano und Fra Angelico auf. Die leuchtenden Farben — , ungebrochene Gold- und Rottöne — überraschen immer wieder den aufmerksamen Betrachter.

Quarientis Nachfolger waren der Venezianer Nicoletto Semitecolo, erfolgreicher in der malerischen Architektur als in der Perspektive seiner Personen, weniger ausdrucksstark in der individuellen Behandlung der Gesichtszüge als Giotto, diesem jedoch thematisch stark verhaftet — und der Florentiner Giusto de’ Me- nabuoi, der unter anderem einen Teil der Dekorationen des Baptisteriums in Padua schuf. Seine Madonnenbilder und sein prächtiges Polyptychon aus dem „Battisterio del Duomo“ gehören zu den eindruckvollsten Werken der Ausstellung.

Jacopo Avanzi aus Bologna und der Veroneser Altichiero arbeiteten gemeinsam an der Ausgestaltung verschiedener Kirchen, u. a. in der „Ba- silica del Santo“, jenem imposanten, dem heiligen Antonius gewidmeten Wahrzeichen Paduas. Die ausgestellten, stark beschädigten Fresken lassen dennoch markante Details erkennen.

Padua, bislang’ unter der Herrschaft des Hauses Da Carrara, gerät nach dessen Sturz 1405 unter venezianischen Einfluß. Es folgt ein langes künstlerisches Schweigen, das später nur für wenige Jahrzehnte ge brochen wird. Florentinische Meister wie Baroncelli, Filippo Lippi und Donatello schufen auf Einladung in Padua und belebten die Lokalkunst neu, deren Vertreter nun der junge Niccolö Pizzolo und Andrea Mantegna wurden. Von den Fresken, die der 18jährige Mantegna in der Chiesa degli Eremitani schuf, wurden die meisten im letzten Krieg zerstört. Seine beiden Darstellungen vom Martyrium des heiligen Christopho- rus hat man für die Dauer der Ausstellung aus der Kirche herausgelöst. Sie vermitteln in optisch hervorragender Präsentation den stärksten Eindruck in bezug auf Raumgliederung, Detaildarstellung und Hell- Dunkel-Konzeption. Die mißglückte Perspektive des totalen Heiligen ist signifikant für Mantegna und bleibt auch auf späteren ähnlichen Gemälden ein bevorzugtes Thema. Dafür läßt sich hier bereits aus den variablen Gesichtstypen der Personengruppen eine eminente Expressivität ablesen, die der reife Meister kaum übertroffen hat.

Mit der Abreise Mantegnas an den Hof der Gonzaga in Mantua im Jahre 1469 endet die lange und glückliche Paduaner Kunstepoche.

Für die Konservierung ihrer praktikablen Kunstwerke investieren die Italiener heute immerhin noch etliche Millionen — die Rettung ihrer schönsten, originellsten Stadt ist ihnen unverständlicherweise keine Lira wert. — Bedauerliche Resignation vor der Zukunft.

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