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Flucht und Vertreibung heute

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Das Thema „Vertriebene" und „Vertriebenenpolitik" bewegt, wenn man es nicht eng faßt, heute die Welt in einem Ausmaß, das man vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätte.

Im deutschen Sprachgebrauch meint man unter „Vertriebenen" in aller Regel die deutschen Heimatvertriebenen aus Osteuropa beziehungsweise Ostmitteleuropa und dem Donauraum (Süd-

osteuropa mit eingeschlossen) im Sinne des deutschen Bundesvertriebenengesetzes wie auch des österreichischen Umsiedler- und Vertriebenen-Entschädigungsge-setzes (UVEG) mit Durchführung des Finanz- und Ausgleichsvertrages von Bad Kreuznach.

Die Zahl der deutschen Vertriebenen wird auf etwa 12 Millionen geschätzt. Sie umfassen sowohl Volksdeutsche wie Reichsdeutsche (deutsche Staatsangehörige des Deutschen Reiches nach Stande vom 31. Dezember 1937) - Menschen also, die wegen ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Staatsvolk oder zum deutschen Volk als ethnischer Gemeinschaft

(„Volksdeutsche") vertrieben - bzw. in Form von Massenzwangswanderungen (enforced mass migrations) aus ihrer angestammten Heimat ausgesiedelt wurden.

Durch das bundesdeutsche Lastenausgleichsgesetz (LAG) wurde den in die Bundesrepublik Deutschland (BRD) gelangten Vertriebenen eine eher großzügige materielle Hilfe zulasten aller deutschen Staatsangehörigen gewährt (ähnlich wie Finnland in seiner Lastenausgleichsgesetzgebung die aus Ostkarelien, UdSSR, vertriebenen Finnländer, die in Finnland neu angesiedelt werden mußten, zulasten der ganzen Bevölkerung in neue wirtschaftliche Positionen brachte).

Deutsche Heimatvertriebene, zumeist Sudetendeutsche und Donauschwaben aus Jugoslawien, gelangten auch nach Österreich. Soweit sie in der sowjetischen Besatzungszone eintrafen, durften sie gar nicht in die Bizone bzw. Trizone weiterwandern und gelangten daher auch kaum in die spätere BRD, yiele Donauschwaben fanden aber eine endgültige Heimat in Kanada und in den USA (Cleveland).

Ausnahme Bruno Kreisky

Osterreich selbst verhielt sich gegenüber den deutschen Vertriebenen, ausgenommen die Südtiroler und Kanaltaler.’lange Zeit völlig ablehnend (man denke an die berüchtigte Rede des Abteilungsleiters im Innenministerium Dr. Just in Salzburg gegen die Vertriebenen) und ist ihnen auch heute nicht extrem gewogen.

Das sieht man auch bei der weitgehenden Nichtausschöpfung der jährlich von Bonn den vertriebenen Beamten („sog. Gmundner, nach dem Gmunder Regierungsabkommen) zugesprochenen eine Million D-Mark durch das Wiener Finanzministerium (Beamtenneid). Erst jetzt, nachdem die Gmundner altersbedingt sehr zusammengeschrumpft sind, ist man in der Zuweisung dieser Mittel großzügiger.

Eine Art leuchtender Ausnahme ist das den Vertriebenen gegenüber sehr positive Verhalten von Bundeskanzler Kreisky, der auch gegen den Willen seiner Beamtenschaft wie des Wiener Bürgermeisters vor wenigen Jahren die Abhaltung des Sudetendeutschen Tages in Wien (mit über 200.000 Teilnehmern) ermöglichte.

Heute zielt die Vertriebenenpolitik in der BRD auf weitgehende Integration der Vertriebenen, ohne die die BRD ihren hohen wirtschaftlichen Standard nicht erreicht hätte. Endlich wagte es auch das Deutsche Fernsehen (ARD) 1980 eine objektive mehrteilige Dokumentarsendung mit anschließender Diskussion von Fachleuten über „Flucht und Vertreibung" zu bringen.

Die italienischen Vertriebenen aus den adriatischen Küstengebieten („profughi"), etwa 350.000 an Zahl, die endgültig mit dem Londoner Memorandum von 1954 auch die Zone B des Freien Territoriums Triest verließen, gelten . ebenfalls als Vertriebene (konnationale Flüchtlinge) und werden durch zahlreiche Gesetze sehr gefördert.

Sie unterliegen nicht dem Mandat des UN-Hochkommissars für die Flüchtlinge sowenig wie die deutschen Vertriebenen oder die Repatrianten (rapatries rimpa-triati, repatriados) aus Afrika nach Frankreich, Portugal und Itahen.

Das Weltflüchtlingsproblem hat mit den (konnationalen = coethnischen) Vertriebenen zwar keinen Zusammenhang, nimmt

Abgrenzungsprobleme

aber immer größere Ausmaße ari (boat people aus Vietnam und Kampuchea, ad hoch-Flüchtlin-ge, Massenzwangswanderungen in nahezu ganz Afrika, aus Afghanistan und dem Iran. Allein in Afrika gibt es zwischen 5 und 6 Millionen neuer Flüchtlinge die vom UN-Hochkommissar betreut werden.

In Europa tauchen durch die unklare Abgrenzung politischer von wirtschaftlichen Flüchtlingen wie bei den Massenwanderungen von Polen nach Osterreich gigantische neue politische, wirtschaftliche und sozio-kulturelle Probleme auf. Eine Abgrenzung zwischen „Vertriebenen" und „Flüchtlingen" wird immer schwieriger, weil Vertriebene" im klassischen Sinne (deutsche Heimatvertriebene, italienische profughi) nicht m^r als Neuzuwachs der vielfach doch schon integrierten Vertriebenen mehr gibt.

Aber: Für den deutschen Bereich tritt die Erscheinung der „Spätaussiedler" hinzu, also jener Volksdeutschen, die aus den Staaten Polen, Rumänien, CSSR und Sowjetunion erst jetzt herausgelassen werden und durchaus freiwillig, wenn auch unter gesellschaftlichem und politischem Zwang kommen. Oft sprechen sie nicht mehr Deutsch (zweite Generation), empfinden aber deutsch. Ihrer nimmt sich die BRD nachhaltig an, aber unter rechtlich ganz neuen Aspekten.

Ihre Zahl liegt bisher (seit den Ostverträgen) schon bei mindestens 300.000. Noch harrt aber eine unbestimmbare Zahl solcher Deutscher aus Polen (man gibt Ziffern zwischen rioch 160.000 und 1,200.000 an) der Aussiedlung, die nur noch mit dem Tropfenzähler gewährt wird.

Auch die Vertriebenen gehören im weiteren, soziologischen, Sinn zu den Flüchtlingen. Ihre Zahl wächst ständig an, die Flüchtlinge (im weitesten Sinn) machen heute etwa 40 Millionen Menschen aus.

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