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Flüchten für Anfänger

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„1935 lebte ich in Österreich. Hitlers Truppen standen schon an der Grenze, und ich wollte nicht abwarten, bis sie einmarschieren", begann L., unser Gastgeber in Kanada, seine Geschichte. Ich besorgte mir einen Paß und plante, über Ungarn und Jugoslawien bis zum Meer zu kommen und mit dem Schiff nach Amerika zu reisen.

Ohne unbescheiden zu sein, kann ich behaupten, daß ich kein armer Mann war. Meine Wohnung war stattlich eingerichtet, ich hatte Markenporzellan und wertvolle Gemälde zusammengetragen - davon konnte ich natürlich nichts mitnehmen, so habe ich nach und nach schön unauffällig alles verkauft, zuletzt auch meine Wohnung.

Der Krieg nahte, und in solchen Zeiten ist es besser, dem Geld nicht zu trauen. Ich wollte also keine Schillinge mitnehmen, damit hätte man mich ja auch gar nicht über die Grenze gelassen. Für die Summe, die ich für meine irdischen Güter erhalten hatte, kaufte ich einundzwanzig kleinere und größere Diamanten, die ihren Wert keinesfalls verlieren. Ich bewahrte die Edelsteine in einem weißen Leinensäckchen auf und machte mir keine eitlen Hoffnungen, es in der Hand, in einer Tasche oder unter der Kleidung versteckt ausschmuggeln zu können. Der Grenzschutz rechnete ja mit der illegalen Ausfuhr der Wertsachen und durchsuchte jeden Ausreisenden gründlich. So mußte ich mir etwas anderes einfallen lassen.

Ich löste vorschriftsmäßig meinen Paß aus und zog mit meinen Koffern - und natürlich mit dem Säckchen Diamanten - in eine Kleinstadt an der Grenze. Ich stieg in einem Hotel ab und verbrachte einige Tage damit, die Lage zu ermessen. Zur Durchführung meines Planes brauchte ich zwei Leute; einen absolut zuverlässigen Arzt und einen Denunzianten. Letzterer lief mir auch bald über den Weg - in der Person unseres Hotelportiers. Probeweise schickte ich mir selber Briefe nach der traditionellen Methode: mit einem Haar „versiegelt". Das Haar war jedesmal zerrissen, ein Beweis, daß Taube - so hieß der Portier - das Kuvert geöffnet hatte. Wenn auch etwas schwieriger, aber schließlich fand ich doch den geeigneten Arzt: einen Chirurgen mit Privatpraxis. Ich wagte es, offen mit ihm zu sprechen, es blieb mir ja auch nichts anderes übrig. Ich zeigte ihm das Leinensäckchen.

„Herr Doktor, ich habe vor auszu wandern; mein Hab und Gut legte ich in Diamanten an, und diese zwanzig Diamanten möchte ich über die Grenze kriegen."

„Wenn ich nicht irre, sind das einundzwanzig."

„Ich möchte diese zwanzig Diamanten über die Grenze kriegen, und der einundzwanzigste gehört Ihnen, wenn Sie mir helfen."

„In welcher Form stellen Sie sich die Sache vor?"

„Sie legen mir am Arm einen Gipsverband an..."

„Ich verstehe. Als wäre er gebrochen."

„Sie verstehen eben nicht. Von wäre ist hier keine Rede. Sie brechen mir den Arm und gipsen ihn so ein. Wenn die Hauptsache verdächtig ist, müssen wenigstens die Details stimmen. Sie wissen bestimmt, daß Spione und Schmuggler immer einen tadellosen Paß haben."

„Ach so, ich verstehe schon. Ich breche Ihnen den Arm und steche die Diamanten in den Gipsverband."

„Sie verstehen eben nicht. Sie legen mir den Gips an, stecken die Diamanten aber nicht hinein, ich lasse sie vorläufig bei Ihnen."

„Aber wie und wann werden Sie sie abholen? Ich kann sie doch nicht monatelang aufbewahren!"

„Ich werde eine günstige Zeit und Gelegenheit finden."

Er brach mir den Arm und vergipste ihn. Mit dem riesigen Verband ging ich zurück ins Hotel und verabschiedete mich vom Portier:

„Auf Wiedersehen, Herr Taube, vielen Dank für alles. Morgen früh fahre ich!"

„Was ist denn mit Ihrem Arm passiert, Herr Direktor?" Ich hob leger den Arm - dabei

konnte ich die Tränen kaum zurückhalten.

„Ich bin der erste Verwundete des neuen Weltkrieges, Herr Taube. Ich habe mir den Arm gebrochen", und ich zwinkerte ihm vertraulich zu.

Taube nickte, rollte aber dabei mit den Augen wie eine Reklamekatze. Na, dachte ich zufrieden, ich habe gut gearbeitet. Der verpfeift mich noch heute beim Grenzschutz.

Dafür, daß ich einen gebrochenen Arm hatte, schlief ich verhältnismäßig gut, ich frühstückte, beglich meine Rechnung und bestieg den internationalen Expreß. Der Zug hatte noch kaum die Grenzzone erreicht, als mich bereits drei Uniformierte herausholten. Sie waren sich ihrer Sache sicher, denn sie winkten dem Lokomotivführer weiterzufahren und nicht auf mich zu warten.

„Was soll das heißen?" protestierte ich. „Ich verlange Genugtuung! Ich habe einen gültigen Paß."

„Das bezweifeln wir nicht, mein Herr. Aber haben Sie etwas zu verzollen?"

„Nichts. Durchsuchen Sie doch bitte meine Koffer.'

„Ihre Koffer interessieren uns nicht Nehmen Sie den Gipsverband ab!"

„Das geht nicht! Mein Arm ist gebrochen, da kann nur ein Arzt 'ran!"

Nicht wahr,

früher hieß das Ziel aller Straßenbahnen: Endstation. Sie war besonders für uns Kinder von Geheimnissen umwittert. Sie befand sich irgendwo in der unbekannten Vorstadt oder zwischen allerlei Hütten, in denen Ausflügler ihren Proviant beziehen konnten, am Rand eines Waldes. Wenn man vielleicht vergaß, bei der richtigen Station auszusteigen, wurde man bis zur Endstation befördert und für die Rückkehr in die Zivilisation hätte man neuerlich eine Fahrkarte lösen müssen. „Endstation Sehnsucht" heißt der ins Deutsche übersetzte Titel eines amerikanischen Stückes und das Gefühlvolle dieser Wortverbindung hatte seine eigene Wirkung.

Die Endstation wurde vor einiger Zeit in Endstelle umbenannt. Man

„Hier wird gar kein Arzt benötigt. Wir haben Informationen, daß Sie nur simulieren."

Und damit schlug mir der Grenzer ohne viel Federlesens mit einem Hammer auf den Gips, und ich fiel vor Schmerzen in Ohnmacht. Als ich wieder zu mir kam, sah ich nur die Trümmer des Verbandes und um mich herum die beschämten Uniformierten.

„Verzeihen Sie, mein Herr, wir wurden falsch informiert..."

„Und ich soll darunter leiden? Der Zug ist ohne mich abgefahren, und ich verpasse den Anschluß."

„Wir bringen Sie gerne mit einem Dienstwagen über die Grenze."

„In Ordnung, das mildert etwas an der Sache. Aber erst möchte ich mir einen neuen Gipsverband anlegen lassen. Bringen Sie mich zu meinem Arzt."

Der Doktor legte mir einen neuen Verband an, steckte diesmal aber die Diamanten hinein. Ich gelangte ohne Schwierigkeiten nach Kanada und machte mit dem Geld einen kleinen Betrieb auf.

Der Autor gehört zu den bekanntesten Satirikern Ungarns. Seine Geschichte scheint an Aktualität nicht verloren zu haben. 1

sagt, in den Jahren nach 1938 hatte sie bereits einmal so geheißen. Warum wohl die Verkehrsbetriebe sich entschlossen haben, zu dieser Benennung zurückzukehren?

Endstelle ist äußerlich die sachli-. chere Bezeichnung. Bei einer Station bleibt die Straßenbahn stehen und fährt dann weiter. Ein Ziel, ein Endziel, ist also sicherlich keine Station. Aber anderseits: Nachdem die Tramway ihre Strecke befahren hat, kehrt sie ja wieder zurück. Ihre Endstation ist kein Endziel, sondern bloß eine Station zum Ausrasten und zur Umkehr. Endstelle ist etwas Eindeutiges. Endstation hat den Zauber der Zweideutigkeit. An der Endstelle ist die Fahrt ganz sicher zu Ende. Die Endstation läßt auf eine Weiterfahrt hoffen. GS

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