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Flüchtlingsschicksal -Katharsis im Exil

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Unlängst sah ich im Fernsehen ein erschütterndes Büd: Vietnamesische Flüchtlinge versuchten auf brüchigen, schrottreifen Schiffen ein rettendes Ufer zu erreichen, irgendein Ufer, festes und sicheres Land ... Das 20. Jahrhundert ist leider ein Jahrhundert der Kriege und der Flüchtlinge, der Vertriebenen und der Exulanten. Noch nie zuvor haben so viele Millionen von Menschen einen überzeugenden Grund dafür gehabt, ihre Heimat zu verlassen und irgendwo eine neue zu suchen. Nach der russischen Revolution 1917 setzte sich der erste große Flüchtlingsstrom in Bewegung. Im Zweiten Weltkrieg wurden Menschen hin und her getrieben und nach dem Krieg einige Millionen Deutsche aus ihrer Heimat vertrieben. Kommunistische Putsche, Aufstände gegen das sowjetische Imperium trieben die geistigen und schöpferischen Eliten vieler sogenannter „sozialistischer Demokratien“ ins Exil. Nun sind die Vietnamesen dran ...

Als in München kürzlich das größte und bedeutendste Treffen exilierter Autoren aus dem Osten eröffnet wurde, zählte ich meine Kollegen, die ich schon seit zwanzig oder mehr Jahren kenne und die ich zum erstenmal nicht in München, sondern vor Jahren in Prag, in Warschau oder in Moskau traf. Ich zählte sie zusammen - an die fünfzig waren auf Einladung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste nach München gekommen. Und ich zählte weiter: Insgesamt hatten die fünfzig exilierten Künstler, die sich in den Räumen der bayerischen Könige versammelten, an die 200 Jahre in sowjetischen, tschechischen, rumänischen, bulgarischen oder ostdeutschen Gefängnissen abgesessen. Man wollte in München über die Literatur und Kunst reden, aber immer brach das menschliche Schicksal der exilierten Autoren durch.

Andrej Sinjawski, der in Paris lebende russische Schriftsteller, sprach in bitterem Ton über seine Erfahrungen mit dem Westen: In den fünf Jahren seines Lebens in Paris hätte er weniger dazugelernt als in«-den ersten fünf Monaten m einem sibirischen Konzentrations- und Arbeitslager. Efim Etkinds geistreiche Rechtfertigung des Exils, also derjenigen, die sich durch Glück oder Zufall retten konnten und hier im Westen die besseren Traditionen ihrer Literaturen fortführen können, war auch nicht von einem bitter-ironischen Beigeschmack befreit: Das russische Exil versteht den Westen nicht ganz, der Westen versteht die Exulanten überhaupt nicht.

Ein Exulant wird im Westen mit zu vielen Klischees belastet: Ein Russe muß natürlich seine in der russichen „Seele“ tief verwurzelte Melancholie zur Schau stellen, ein Tscheche, der spezifisch „böhmische“, traurig-ironische und sanft zynische Romane schreibt, kommt natürlich nicht vom braven Soldaten Schwejk los. Ein Prager, der noch dazu ein deutsch sprechender Jude ist, wird ständig mit Kafkas Schatten belastet. Einen ungarischen Intellektuellen, der in München perfektes Oxford-Englisch sprach, fand man in manchen bayerischen Kreisen, milde ausgedrückt, sehr ungewöhnlich. Ein Ungar darf doch nicht besser als die Bayern englisch sprechen, er soll doch für immer mit einem exotischen ungarischen Akzent reden, Csardas tanzen und sonst nichts. Ein Pole, der nicht katholisch, sondern evangelisch ist und sich nicht prompt zum Jugendfreund des Papstes erklart, ist natürlich von vornherein verdächtig, nicht ein „echter“ Pole zu sein. I

Ich kann fast von einem Wunder reden. Horst Bienek, der das ganze Treffen ausgedacht hat und es auch leitete, gelang tatsächlich ein Wunder: Er brachte die verschiedensten Exulanten an einen Tisch, also auch Künstler, ausgeprägte Individualisten, die sich außerhalb der Räume der Bayerischen Akademie der Schönen Künste bisher nicht einmal im Exil begrüßten ...

Horst Bienek ließ sich auch die sonderbarste Lesung, die von exilierten Schriftstellern aus den Osten je im Westen veranstaltet wurde, einfallen: Die Autoren aus dem Osten lasen ihre Texte in der Muttersprache vor, namhafte deutsche Autoren, Manfred Bieler, Horst Bienek, Rudolf Hagelstange, Tankred Dorst und andere, lasen dann die Texte in deutscher Ubersetzung. Das, was eigentlich nicht gut gehen konnte, war zuletzt der große Erfolg des Treffens. Die Deutschen hörten zum erstenmal, wie ein rumänischer Text von Paul Görna vorgelesen klingt, sie hörten die Sprachmelodie der Bulgaren, Ukrainer, der Russen mit Moskauer und Leningrader Akzent. Natalja Gorbanjewskaja, die russische Lyrikerin aus Moskau, die jetzt in Paris lebt, verfiel bei ihrer Lesung aus Angst, daß sie nicht verstanden wird, in ein echt russisches Pathos, das im Westen zwar geliebt, aber tatsächlich nicht verstanden wird.

Als die Lesung vorbei war, hörte ich ganz deutlich, wie meinem Freund Horst Bienek ein Stein vom Herzen auf den Parkettboden der königlichen Residenz fiel und polterte. Für drei Tage „eroberte“ der

„Osten“ die ehrwürdigen Räume der Akademie. Staatsminister Hans Maier kam nicht richtig zu Wort, weil Viktor Nekrassov. der einstige Träger des Stalinpreises für Literatur, sich gezwungen fühlte, mit den Deutschen abzurechnen: Viktor Nekrassov kämpfte als Offizier der Roten Armee in Stalingrad - und jetzt stand er seinen gewesenen Feinden gegenüber und erzählte über seine schmerzlichste Erfahrung: über Krieg, Tod und Mißverständnisse, die die Menschen trennen. Nekrassov, der in München seinen 68. Geburtstag bei echtem russischem Wodka feierte, bat die Deutschen um Verständnis: Die Mauer in Berlin haben nicht die Russen, sondern die Kommunisten gebaut...

Eine deutsche Intellektuelle flüsterte mir, nachdem Nekrassov mit einer großen russischen Geste seine Ansprache beendet hatte, ins Ohr: Sie fände, sagte sie, Nekrassovs Ausführungen zu sentimental, und außerdem, sagte sie weiter, hätte sie von einem so großen Schriftsteller mehr Selbstdisziplin erwartet... Die östlichen exilierten Autoren sind aber nach München nicht dazu gekommen, um hier Selbstdisziplin zu üben. Im Gegenteil. Horst Bienek, die Seele des Treffens und einst selbst fünf Jahre lang Häftling in Sibirien, war jedoch über den „Osten“ mehr informiert: Zum Nachtcocktaü ließ er echten russischen Wodka, Heringe und saure Gurken servieren.

In München wurden beim Treffen deutscher Autoren mit dem osteuropäischen Exil so manche Trennungslinien abgeschafft und so viele menschliche Kontakte osteuropäischer Autoren mit ihren deutschen Kollegen, mit Verlegern, Journalisten und Ubersetzern angeknüpft. Dies war Horst Bieneks Ziel, und er hat es auch erreicht.

Einige eingeladene deutsche und auch österreichische Autoren blieben dem Treffen fern und prahlten in München nur durch ihre Abwesenheit. Ihnen war das Treffen zu „reaktionär“, und sie wollten ganz bestimmt nicht ihr rosa Image einbüßen. Dem „Bayernkurier“ dagegen war das Treffen wieder zu links, also eines Artikels wert, in welchem Horst Bienek und die Bayerische Akademie der Schönen Künste beschuldigt wurden, in München ein äußerst links ausgerichtetes Treffen organisiert zu haben ...

Die exilierten Intellektuellen aus dem Osten haben es hier also nicht leicht - und die hiesigen politischen Parteien, und auch westliche Intellektuelle, die bei exilierten Künstlern ein Reservoir an Argumenten erwarten, mit denen sie oft ihre eigene ein wenig erschlaffte Uberzeugungskraft auffrischen möchten, tun sich mit den Exulanten noch schwerer.

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