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Flüssige Rechtsmaterie

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Entstehung und Entwicklung des Bundesverfassungsgeset- zes (B-VG) sind ein Anschauungs- beispiel der geschichtlich-gesell- schaftlichen Bedingtheit des Rechts. Sie zeigen die Verfassung als Ver- trag zweier großer Machtgruppie- rungen, die sich darin fest- und fortschreiben, als rechtliche Siche- rung von politisch Erkämpftem, als politisches Museum vielen alten eu- ropäischen Rechtsgutes. Sie zeigen aber auch die Unfähigkeit der Poli- tik zu Großem und Ganzen und die Banalisierung des Verfassungs- rechts durch Einzelhandel und - händel der Parteien.

Das „Gesetz vom 1. Oktober 1920, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird" (Bundesverfassungsgesetz) war ein Kompromiß verfassungspolitischer Vorstellungen der beiden großen Parteien in der „konstituierenden Nationalversammlung". In gehei- men Parteienverhandlungen wur- den unter großem Zeitdruck Kom- promisse gefunden, die in vielem immerhin eine Form und Formu- lierung haben, die man heute ver- geblich sucht. Von der klaren Schönheit des Kelsenschen Rechts- denkens ist heute nach vielen, vie- len Veränderungen wenig wahrzu- nehmen.

1920 sah man das B-VG als Über- gang und unterließ vieles. So fehlen besondere einigende politische Elemente wie Symbole, eine feier- liche Einleitung oder Hymne. Au- ßerdem mußte man eine Reihe pro- blematischer und kontroverser Materien ausklammern, weil man sich nicht einigen konnte. So fand man keinen Grundkonsens hin- sichtlich des Herzstücks einer je- den Verfassung: Der Grund- und Freiheitsrechte. Und auch heute enthält das B-VG keinen Grund- rechtskatalog.

Noch heute gilt diesbezüglich die Dezemberverfassung 1867, ergänzt insbesondere durch die Europäische Konvention zum Schutz der Men- schenrechte und Grundfreiheiten. Damit war zu lange der einfachen oder großen Mehrheit zu viel zur Einschränkung und Gestaltung der Grundrechte überlassen.

Das B-VG hatte die Weimarer Reichsverfassung 1919 und die Schweizerische Verfassung 1874 als Vorbilder. Allerdings wurde die direkte Demokratie von Anfang an, nicht zuletzt wegen der Vorbehalte der Sozialdemokraten, stiefmütter- lich behandelt. Die Annäherung an Weimar erfolgte noch mehr durch die Verstärkung der Stellung des Bundespräsidenten 1929. Er wurde allerdings nie wirklich stark. Wie ein Wasserzeichen schimmern durch die Regelungen des B-VG Normen aus der altösterreichischen Verfassung 1867 und aus der März- verfassung 1919 durch.

Wenn auch über die Grundlage unserer Verfassung nach den Wor- ten ihrer Väter kein Zweifel be- stand, so muß doch der Konsens der Parteien hinsichtlich Demokratie und Repubik bezweifelt werden. Zu sehr waren diese für die einen nur der „Weg zum Sozialismüs", für die anderen nicht die „wahre De- mokratie". Die politischen Glau- bensgegensätze wurden zum ver- balen Religionskrieg und zum tat- sächlichen Bürgerkrieg. Der Kon- sens war formell, nicht auch funda- mental gegeben. Einig waren sich die Parteien letztlich in der Ein- richtung einer ausgeprägt reprä- sentativen Demokratie.

Einig waren und sind sie sich offenbar auch hinsichtlich des Verhältniswahlsystems auf allen Ebenen. Der Proporz entsprach und entspricht den Großparteien und er entsprach und entspricht den Klein- parteien. Das in den letzten Jahren entstandene hinkende Vierpartei- ensystem läßt eine Alternative (im Gegensatz zu früheren Jahrzehn- ten) heute gar nicht mehr zu. Kon- sens kennzeichnet auch die wich- tigsten rechtsstaatlichen Einrich- tungen. Verwaltungsgerichts- barkeit und Verfassungsge- richtsbarkeit wurden und werden von allen Kräften bejaht.

Divergente Einstellungen bestan- den seinerzeit vor allem zum Föde- ralismus und damit verbunden zur Ausgestaltung des Parlamentaris- mus. Die Christlichsozialen waren für sehr weitgehende Rechte der Länder und für eine stärkere Län- derkammer. Die Sozialdemokraten befürchteten reaktionäre oder kon- servative Tendenzen und lehnten sowohl starke Länder als auch ein Zweikammersystem ab. Sie waren - im Gegensatz zu heute - für kurze Gesetzgebungsperioden (zwei Jah- re); die Christlichsozialen für sechs Jahre. Sie plädierten für einen ei- genen Bundespräsidenten, die So- zialdemokraten für den Par- lamentspräsidenten als Träger von Staatsoberhauptfunktionen. In al- len diesen Fragen kam es zu Kom- promissen.

Heute ist die Kompetenzvertei- lung zwischen Bund und Ländern in vieler Hinsicht so in die Krise geraten, daß sie von Novelle zu Novelle verstärkt wird. So wie hinsichtlich des Grund- rechtskatalogs ein neuer Gesell- schaftsvertrag notwendig ist, so hinsichtlich der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Ge- meinden, Ländern und Bund. Der EG-Beitritt kompliziert freilich auch diesen Komplex.

Im Gegensatz zu diesen großen Problemen einer Btaatsform ist die Stellung der Länderkammer rela- tiv leicht zu verbessern. Neben der Direktwahl der Mitglieder sollte auch Gleichheit in der Repräsenta- tion jedes Landes gewährleistet sein.

Der seinerzeit heiß umfehdete Bundespräsident, von dem Sozi- aldemokraten monarchische und cäsaristische Experimente be- fürchteten, ist durch die Praxis reduziert worden. Über seine Stel- lung wird wenig diskutiert. Um Mißverständnisse zu vermeiden, würde für ein kleines Land der Parlamentspräsident genügen.

Man sieht also, daß es eine Reihe von Konstanten an Konsens, an Kontroversen und an Problemen seit der Entstehung des B-VG gibt. Andererseits haben die vielen Änderungen des B-VG in der Zwei- ten Republik auch einen Reform- konsens zum Ausdruck gebracht. Durch ihn konnten zum Teil Pro- messen und Programme des B-VG eingelöst werden, so zum Beispiel durch die Gemeindeverfassungs- novelle und die Schulverfas- sungsnovelle 1962.

Zum Teil wurde das B-VG präzi- siert (zum Beispiel Novelle 1964 über die Behandlung von Staats- verträgen, 1968 über die Ab- schaffung der Todesstrafe). Einige Novellen dienten der Erfüllung von Forderungen der Bundesländer (1974, 1983, 1984, 1988). Bemer- kenswert ist sicher auch hier der Konsens im Ausbau der Rechts- staatlichkeit betreffend den Rechts- schutz, Verwaltungsgerichtsbar- keit, Verfassungsgerichtsbarkeit, die Einführung der Volksanwalt- schaft und von unabhängigen Ver- waltungssenaten.

Hunderte Verfassungsgesetze, in einfachen Gesetzen und Staatsver- trägen enthaltene Verfassungs- bestimmungen zeigen einen Um- gang mit dem Verfassungsrecht, der fast einer Umgehung gleichkommt.

Die beiden Großparteien sind einer großen Verfassungsreform mit Ziel und System ausgewichen und haben durch viele Änderungen das Verfassungsrecht, aber nicht die Verfassungsreform in Fluß ge- bracht. Die Verfassung ist zur flüs- sigen Rechtsmaterie geworden.

Der Autor, Professor für Rechtslehre, ist Drit- ter Präsident des Wiener Landtages.

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