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Der Großteil der klassischen russischen Kunst — die Ikonen — wurde von Künstlern gemalt, deren Namen wir nicht kennen. Diese Anonymität hatte ihren Grund in der tiefen Demut des Künstlers vor Gott. Zeitgenössische russische Kunst ist ebenfalls anonym, doch diesmal liegt der Grund in der komplexen politisch-sozialen Entwicklung, die in Rußland nach der Revolution stattfand.

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Der Großteil der klassischen russischen Kunst — die Ikonen — wurde von Künstlern gemalt, deren Namen wir nicht kennen. Diese Anonymität hatte ihren Grund in der tiefen Demut des Künstlers vor Gott. Zeitgenössische russische Kunst ist ebenfalls anonym, doch diesmal liegt der Grund in der komplexen politisch-sozialen Entwicklung, die in Rußland nach der Revolution stattfand.

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Nach dem großen geistigen Aufbruch, den die Oktoberrevolution für die bildende Kunst bedeutete — man denke nur an Kandinsky, Malevitsch, El Lissitzkij, Tatlin und ihren Einfluß auf die Entwicklung der modernen Kunst überhaupt —, stoppte Stalins autoritärer Persönlichkeitskult und die drückende bürokratische Struktur, die er entfaltete, bald diesen Höhenflug und führte zu einer neuen Form der Ikonographie: Tausende und aber Tausende von Denkmälern, Büsten und Porträts von Lenin, Stalin und anderen Parteiführern entstanden in den letzten 50 Jahren. Dem ausländischen Betrachter mag scheinen, daß ein Lenin-Poster für den Künstler leicht verdientes Brot ist — in Wahrheit ist es aber ziemlich schwierig, Lenins Augen den richtigen inspirierten Ausdruck zu geben oder seinen Bewegungen die richtige revolutionäre Gestik, und ziemlich häufig werden solche Werke wegen ihres mangelnden künstlerischen Wertes vom Auftraggeber nicht akzeptiert. Auch diese Ikonographie hat eine gewisse Entwicklung durchgemacht: der Lenin von heute unterscheidet sich wesentlich vom Lenin, wie er vor 30 Jahren gemalt wurde — er ist viel weniger individualisiert, entbehrt aller naturalistischen Details und blickt mit dem unirdischen Ernst eines Übermenschen in die immer noch ferne kommunistische Zukunft.

Sieht man von diesem Aspekt der sowjetischen Kunst ab, so begegnet uns eine große Zahl von Künstlern, die „realistisch“ malen, mit Anstrichen von Impressionismus, Kubismus oder Fauvismus, und zwar häufig gar nicht schlecht. Trotzdem empfindet der Betrachter nicht selten ein gewisses Unbehagen vor solchen Bildern. Der große Wechsel im wissenschaftlichen, ökonomischen und sozialen Denken, der um die Jahrhundertwende einsetzte, bedeutete auch einen Wandel der sogenannten Realität für den Künstler und fand seinen Ausdruck in der Darstellung dieser Realität auf verschiedenen Ebenen der Abstraktion. Diese Wechselbeziehung zwischen der Kunst und den neuen wissenschaftlichen und sozialen Strukturen wird in der Sowjetunion offiziell negiert. Anerkannt wird nur eine

Kunst, welche die Realität in ihrer gewohnten gegenständlichen Ordnung und in der seit der Renaissance üblichen Linearperspektive zeigt. Sehr großer Wert wird auch auf die Wahl der dargestellten Objekte gelegt: bevorzugt sind Szenen aus dem Arbeitsleben, auch läßt sich ein gewisser Kult des starken, jungen Körpers beobachten, gemalt in wenig gemischten, leuchtend frischen Farbakkorden. Diese offizielle Kunstauffassung — bekannt unter dem Namen „sozialistischer Realismus“ — schreibt also den Künstlern nicht vor, wie und was sie zu malen haben, sie tabuisiert aber doch sehr deutlich, wie und was nicht gemalt werden soll. Jede Umordnung der Realität, sei es im Sinn des Surrealismus oder einer Abstraktion, wird unter dem Decknamen „Formalismus“ als staatsgefährdend abgelehnt. *

Trotz dieser offiziellen Tabuisie-rung ist die künstlerische Szene in Moskau jedoch reich an Künstlern, welche die moderne sowjetische Realität auf äquivalente Weise um- und neugestalten. In westlichen Publikationen über das Leben und die Arbeit sowjetischer „linker“ Künstler wird viel über ihr Unterdrücktsein geschrieben. In Wahrheit, kann. die Situation nicht In* “solch simplifizierter Weise beschrieben werden. Der größte Teil der jüngeren Generation von sowjetischen Künstlern — jetzt zwischen 30 und 40 Jahren — lebt unter Bedingungen, die sich von denen westlicher Künstler nicht nur in negativer, sondern auch in positiver Weise unterscheiden.

Schon nach der Volksschule werden Knaben und Mädchen, die ein besonderes Talent im Zeichnen und Malen zeigen oder die einfach Künstler werden wollen, in spezialisierten Kunstschulen ausgebildet, wo besonderes Gewicht auf Kunsterziehung, Kunstgeschichte und Mal- und Zeichentechniken gelegt wird. Nach Abschluß der Mittelschule besuchen sie eine Kunstakademie, etwa das Suri-kov-Institut in Moskau oder das Institut für Gebrauchsgraphik, wo sie wie alle sowjetischen Studenten ein Stipendium erhalten. Dort studieren sie noch vier Jahre und schließen mit einer Diplomarbeit ab. Viele der heutigen modernen Künstler wurden während ihrer Studienjahre, die noch in die Stalin-Zeit fielen, ein-oder mehrmals wegen „Formalismus“ aus dem Institut ausgeschlossen, jedoch meist ohne größere Schwierigkeiten wieder aufgenommen. Nach Beendigung des Instituts arbeiten die meisten Künstler für Verlage, Zeitungen oder Zeitschriften. Dort illustrieren sie Kinderbücher oder besorgen die graphische Gestaltung für alle Arten von Publikationen. Diese Art von Arbeit wird ziemlich gut bezahlt. Für ein Kinderbuch, welches ein bis zwei Monate Arbeit braucht, erhält der Künstler ungefähr 800 Rubel — der Durchschnittsgehalt für Leute mit Universitätsabschluß beträgt 160 Rubel. Nach einigen Jahren Wartens plus heftigem bürokratischen Gekrampte werden die Künstler Mitglied des staatlichen Künstlerverbandes bzw. Mitglied der Jugendsektion (bis 35 Jahre). Diese Mitgliedschaft ist ziemlich wichtig, um lukrative Illustrationsaufträge zu erhalten. Mitglieder des Künstlerverbandes haben auch ein Anrecht auf ein- oder zweimonatige Aufenthalte in staatlichen „Häusern für schöpferische Arbeit“, die meist landschaftlich reizvoll gelegen sind und wo sie auf Staatskosten leben und in einem eigenen Atelier arbeiten. Der Künstlerverband versorgt seine Mitglieder auch mit Ateliers an ihrem Heimatort, nicht selten bauen die Künstler auch ihr Atelier selbst in einem zur Verfügung gestellten leeren Estrich (Dachboden). Der Bau eines Ateliers ist nicht billig (zwischen 2000 und 3000 Rubel), aber dann ist die monatliche Miete sehr niedrig, ungefähr um 25 Rubel. Auf diese Weise haben russische Künstler oft Ateliers, von denen selbst arrivierte westliche Künstler nur träumen können.

Die andere Seite der Medaille ist das Ausstellungsproblem. Sowjetische Künstler dürfen nur an Ausstellungen teilnehmen, die vom staatlichen Künstlerverband organisiert sind. Es werden aber nur relativ wenige Ausstellungen veranstaltet, und meist nehmen einige hundert Maler mit nur zwei oder drei Arbeiten daran teil. Außerdem ist die bürokratische Prozedur, welche einer Ausstellung vorangeht, recht kompliziert, und die meisten „Linken“ werden oft ohne nähere Begründung abgelehnt. Nachdem sie einige Male abgelehnt wurden, versuchen es die meisten gar nicht mehr, und deshalb arbeitet ein Großteil der Künstler praktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Diese Situation ist natürlich ziemlich deprimierend und ruft beim Künstler oft das Gefühl hervor, daß seine Arbeit sinn- und nutzlos ist, sowohl für ihn als auch für die Gesellschaft, in der er lebt. Ein weiterer Grund für Depressionen ist die Unmöglichkeit, zu reisen. Die Künstler wissen, daß sie wahrscheinlich nie in ihrem Leben Orte wie Paris, Rom oder London sehen werden.

Eine führende Persönlichkeit der jungen Generation sowjetischer Künstler ist der Bildhauer Ernst Neizwestnyj, geb. 1927. Als Achtzehnjähriger nahm er am zweiten Weltkrieg teil und kämpfte, zweimal schwer verwundet, bis zum Ende des Krieges mit. Das Blut und die Tränen der Kriegszeit waren sicher ein bestimmender Eindruck für Neiz-westnyjs spätere Entwicklung. Seine Kunst realisiert sich in riesigen Skulpturenlandschaften, deren Elemente Stein, Bronze, Stahl, Licht und Bewegung sind. In ihnen ist das Leid des Menschen und seine Rebellion dagegen gestaltet. Der Besucher soll in diesem gestalteten Raum umherwandern und zu einem besseren Verständnis seiner eigenen Probleme gelangen. Neizwestnyjs Skulpturen, die sich in einem Wirbelwind zu befinden scheinen, sind deformiert wie das menschliche Leben in der technisierten Gesellschaft, ihre gebrochenen Formen bringen die Unvereinbarkeit der menschlichen Sehnsucht nach Liebe und Freiheit in einer unmenschlichen Realität zum Ausdruck. Natürlich kann er seine Projekte nicht in voller Größe realisieren, obwohl seine drei Ateliers unvorstellbar überfüllt sind mit Skulpturen und verkleinerten Modellen. Neizwestnyj arbeitet sehr viel und hart, schläft kaum und hat kein normales Privatleben. Die Erfahrungen seiner Kriegszeit haben ihn jenen gewissen Todesmut gelehrt, der ihn keinerlei Furcht empfinden läßt.

Man kann moderne sowjetische Kunst nicht direkt mit progressiver westlicher Kunst, wie etwa mit Popart oder Conceptual-art vergleichen. Die Probleme, die sich sowjetischen Künstlern stellen, unterscheiden sich sehr wesentlich von denen, die westliche Künstler beschäftigen. Weder gibt es in der Sowjetunion den Druck kapitalistischer Werbetechnik noch unseren Konsumterror — das Hauptthema der Pop-art, noch gibt es einen Vietnamkrieg und kaum soziale Ungleichheit. Die Hauptcharakteristiken der sowjetischen Realität sind erstens, daß der Hauptteil der verfügbaren menschlichen Energie auf die Entwicklung der Schwerindustrie und der modernen Technologie gerichtet wird, und zweitens der Druck der bürokratischen Struktur, welcher alle Aspekte des menschlichen Lebens bestimmt.

Diese Probleme sind sehr klar in den höchst interessanten Arbeiten von Jlya Kabakov, geb. 1933, dargestellt. Kabakov benützt die Methoden moderner Logik, um eine konkrete Situation, zum Beispiel das Fußballspiel einiger Buben, in eine exakte Beschreibung aller lokalen, zeitlichen und personellen Angaben der Beteiligten aufzusplittern, und transformiert solcherart alles in Bürokratie. In einem seiner letzten großen Bilder ist rechts die traurige Einöde des sowjetischen Konsumsektors (ein Nebenprodukt der forcierten Entwicklung der Schwerindustrie) mit all ihrem Einfluß auf das Alltagsleben konfrontiert mit der dichten bürokratischen (Un)Ord-nung eines komplett unsinnigen Frage-und-Antwort-Spiels auf der linken Seite. In vielen seiner Arbeiten tritt ironischer Witz Seite an Seite mit plötzlicher Trauer auf, manchmal von Horror durchbrochen. Kabakovs großes und ziemlich chaotisches Atelier im 9. Stock (ohne Lift) eines riesigen labyrinthischen Baues an einem romantischen Boulevard im Zentrum Moskaus ist einer der Sammelpunkte der intellektuellen Jugend.

Die Moskauer Künstler kennen im Gegensatz zum Westen kaum Gruppenarbeit und arbeiten völlig frei von Modeströmungen. Jeder Künstler arbeitet nur an sich und an der Vervollkommnung seiner Werke — die Vorteile seiner Lage nützend und zugleich unter ihren Nachteilen leidend.

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