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Forscher rätseln über Krankheit

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Bis heute kennt man nicht die Ursachen von Autismus. Aber Wissenschaftler fanden jetzt einen Weg, die Kranken aus ihrem geistigen Gefängnis herauszuholen.

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Bis heute kennt man nicht die Ursachen von Autismus. Aber Wissenschaftler fanden jetzt einen Weg, die Kranken aus ihrem geistigen Gefängnis herauszuholen.

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Eine für die Wissenschaft noch neue und geheimnisvolle Krankheit beschäftigt in zunehmendem Maße die Mediziner: der erst in den vierziger Jahren entdeckte Autismus, ein geistig-seelisches Leiden, bei dem der Mensch keinen Zugang zu seiner Umwelt findet. Nach jüngsten Statistiken zählt man unter 10.000 Einwohnern fünf Autisten. Während die Ursachen dieser Störung noch völlig ungeklärt sind, haben jetzt Forscher eine Methode gefunden, diesen Menschen den Weg zu ihrer Umwelt zu ermöglichen. Damit können Autisten - bisher ausschließlich Pflegefälle in geschlossenen Anstalten - erstmals ein fast normales Leben führen.

Der Autismus ist nicht wirklich eine neue Krankheit und vermutlich so alt wie andere Leiden auch. Nur wurde er erst 1943 zum ersten Mal von einem Mediziner erkannt und beschrieben. Noch bis vor kurzem galt „autistisch” als eine der schrecklichsten Diagnosen überhaupt. Spätestens seit Dustin Hoffman in dem Oscar-prämierten Film „Rain Man” einen Autisten gespielt hat, übt diese Krankheit nicht nur auf die Fachwelt eine Faszination aus.

Nach der wissenschaftlichen Definition ist es eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die als Kontakt- und Kommunikationsstörung manifest wird. Autisten ziehen sich in sich selbst zurück, leben wie in einem Gefängnis. Von sich aus können sie nicht hinaus. Und was von außen herankommt, Sinnesreize der Umwelt, können sie nicht entsprechend verarbeiten.

Mit anderen Worten, wenn ein Kleinkind den Blickkontakt meidet, Zärtlichkeiten ablehnt, wie taub wirkt und großen Widerstand gegen Veränderungen zeigt, dann ist es nicht schlimm oder schwierig, dann kann es autistisch sein. Eine ärztliche Untersuchung ist unumgänglich. Ausgelöst wird die Störung vermutlich durch unterschiedliche Ursachen wie genetische Faktoren oder erworbene Hirnstörungen.

Ende der Ghettoisierung

Nach jahrelangen Forschungen und Trainingsprogrammen legten Experten jetzt ein Konzept vor, mit dem Autisten erstmals sehr gut in die Gesellschaft eingegliedert werden können.

Kernpunkt der Therapie: Jeder Schritt des täglichen Lebens muß von klein auf durch die Mutter oder einen Betreuer eingeübt werden, da Autisten nicht wie normale Kinder Selbstlerner sind. Das reicht vom Ankleiden über Wasserhahnaufdrehen bis zum Essen mit Besteck oder Arbeiten am Computer. Dabei ist ein konsequenter Trainer erforderlich, der geduldig aber bestimmt die Hand beim Üben des Buchstabens „A” führt und auch 100 Mal die richtige Hilfestellung beim Anziehen der Schuhe gibt, bis der kleine Schüler es selbst kann.

Immer wieder muß vehementer Widerstand überwunden werden. Denn das Kennzeichen des Autisten sind Tobsuchtsanfälle oder Schreikrämpfe, wenn es gilt, Neues zu tun.

Das wichtigste: Die Methode, mit der Autisten in allen Altersphasen unterrichtet werden, muß in ihrem Grundkonzept immer die gleiche bleiben. Wie die Wiener Psychologin Elvira Muchitsch feststellt, konnte man bei jahrelangen Therapieversuchen beobachten, daß Autisten, die bereits ein völlig „normales” Leben führten, wieder in ihre gestörte Verhaltensweise zurückfielen, sobald ein Wechsel der methodisch-pädagogischen Führung erfolgte.

Diese neuen wissenschaftlichen Erkennmisse haben Eltern autistischer Kinder mobilisiert. Sie gründeten den Verband „Rainman's Home” zur Rehabilitation von Autisten. Das Ziel des Verbandes: Die Schaffung von lebensbegleitenden Einrichtungen vom Kindergarten über Schulen bis zu Werkstätten, in denen die Jugendlichen mit gleichbleibenden Therapiemethoden zur größtmöglichen Entfaltung geführt werden.

Daß Autisten tatsächlich Wesen zwischen Wahnsinn und Hochbegabung sein können zeigt die Tatsache, daß sie oft eine Merk-Kapazität wie ein Computer aufweisen, ganze Telefonbücher im Kopf haben. Übrigens: Autisten, so Muchitsch, sind keineswegs wie bisher immer behauptet, gefühlskalt. Sie können sich überschwenglich freuen und glücklich sein, wenn sie wieder etwas gelernt haben - nur die Art, ihre Freude zu zeigen, ist anders als bei uns.

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