7044625-1990_28_12.jpg
Digital In Arbeit

Fortschritt zur Ungerechtigkeit

19451960198020002020

Eine desillusionierende Stimme in der Ost-WestEuphorie erhob der vom Management-Club eingeladene bedeutende Biochemiker und Gentechnik-Kritiker Erwin Chargaff.

19451960198020002020

Eine desillusionierende Stimme in der Ost-WestEuphorie erhob der vom Management-Club eingeladene bedeutende Biochemiker und Gentechnik-Kritiker Erwin Chargaff.

Werbung
Werbung
Werbung

Erwin Chargaff, weltberühmter Biochemiker und krifischer Zukunftsforscher, war wieder einmal Gast in Wien. Im Technischen Museum spra.ch er auf Einladung des Management Clubs zu einem von ihm schon oft kritisch betrachteten Thema, nämlich „ Über den unendlichen Fortschritt".

Der geborene Wiener, der in den USA die Bausteine der DNS (Desoxyribonukleinsäl.lre, · Trägerin in der Vererbung) analysierte, war lange Zeit selbst beseelt vom „un-

endlichen Fortschritt" , den wissenschaftliche Forschung der Menschheit zu bescheren schien. Heute hat er massive Zweifel und wird nicht müde, vor der „hybriden Anmaßung des Menschen, durch wissenschaftliche Erkenntnis die Natur gänzlich erfassen und durch synthetische Reproduktion noch überflügeln zu können", zu warnen.

Jeder Fortschritt, einzeln und in Beziehung zum einzelnen betrachtet, bringe gleichzeitig Nachteile mit sich, so Chargaff. Die Hoffnung, daß gleichzeitig mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und materiellen Errungenschaften die Menschen besser und klüger würden, habe si????h als trügerisch erwiesen: „Heute sind noch immer ganze Erdteile vom Fortschritt ausgeschlossen, und er ermöglicht ausschließlich der herrschenden Klasse und den herrschenden Völkern ein besseres Leben." Da hinter den „meisten fortschrittlichen Ideen" nichts „philosophischeres als die Brieftasche" stecke, wachse die krasse Ungleichheit täglich.

Das aktuelle Beispiel: Die „Verbereits. braucherrevolte" in Osteuropa, zu der „viele Impulse von den Zeitungsreklamen der wohlhabenden Länder kamen". Statt der dringend notwendigen Senkung des Lebensstandards der westlichen Welt werde die „sogenannte freie Ma,.-ktwirtschaft auf Kosten der Dritten Welt" jetzt auch im Osten forciert.

Daß diese wachsende Kluft zu einer tödlichen Umarmung der armen Dritte-Welt-Länder führen könnte, der die „fortschrittliche" Erste Welt völlig machtlos gegenübersteht, sei bereits abzusehen.

„Von echtem Fortschritt kann man nur dann sprechen" , meinte Chargaff, „wenn er global verwirklicht wird und niemand davon ausgenommen ist. Heuie. ist es möglich, für die gesamte Weltbevölkerung die Ernährung zu sichern und trotz der Kenntnis der nötigen naturwissenschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen wird es nicht getan." So wurde Fortschritt zur Umweltvernichtung.

Der Mensch sei nicht gut, sagte Chargaff in Wien, sondern mal gut, mal schlecht und immer verwirrt. Deshalb sei auch die Form der experimentellen Naturwissen-

schaft, die sich an den I ernen vergriffen habe - dem Atom- und dem Zellkern - eine große Gefahr für die weitere Bewohnbarkeit der Erde. Die Dämpfung der „ Wissenschaftsüberhitzung" sei jetzt notwendig. „Heute sitzen Schwärme von Experten auf den Wunden unseres Planeten und leben von ihnen" kritisiert Chargaff, „es scheint so, als würden viele Wissenschaftler auf die große Katastrophe warten, um dann ein dickes Buch darüber zu verfassen."

Er fordert deshalb ein Moratorium der Forschung ab sofort. Eine

radikale Forderung, die er damit begründet, daß die Umweltsituation nur mehr mit radikalen Maßnahmen sanierbar sei. Ozonloch, Treibhauseffekt, Baumsterben, Pestizide im · Trinkwasser und so weiter könnte man längst mit Hilfe wissenschaftlicher Forschungsergebnisse im Griff haben. Alle Kraft müsse daran gesetzt werden, „das eigene Haus zu sanieren, und nicht nur darüber zu reden."

Während der Begriff Fortschritt vor dem 18. Jahrhundert eine „allmähliche

stetige Fortbewegung von Punkt zu Punkt" bezeichriete, wurde er mit dem Auftauchen der ersten Maschinen zur „unaufhaltsamen Aufwärtsentwicklung" umgedeutet, die zur Hoffnung auf eine moralische und intellektuelle · Vervollkommnung des Menschen führte. Seit langem müsse man aber feststellen, daß materielle Errungenschaften 4ie Menschheit eben nicht i????mer weiterbringen. „Angesichts der Tatsache, daß viele Menschen heute den Gebrauch der Sprache verlieren, kann man wohl nicht davon ausgehe;i, daß sie klüger und besser sind." Fortschritt sei heute ein sinnentleertes, oft gebrauchtes politisches Vokabel, dem vor allem die Jugend skeptisch gegenübersteht", so Chargaff.

„Die Jugend war immer verwirrt, und hat dann immer ihren . Weg gefunden, sagt man leichtfertig. Ich behaupte, die Jugend war nie so verwirrt wie heute, denn sie erstickt an der mangelnden Menschlichkeit. Wir begraben sie unter Problemen, deren Lösung wir aus dem Weg gegangen sind."

Chargaff endete wenig optimi- • stisch: Die nähere Zukunft werde „geistesschwächer und verschmutzter sein", da wir uns zur Zeit „stumpf und- dumpf in den Abgrund stürzen".

Der große alte Mahner trat also ab und nach einer andächtigen Pause der Zuhörer sprach eine der zuhörenden „ österreichischen Führungskräfte" , Rudolf Bretschneider, in ähnlicher Fortschrittshoffnung wie Minister Wolfgang Schüssel, der die Veranstaltung eröffnet hatte. Er beschrieb die Veränderungen in den ehemaligen Ostbfockstaaten als, „von s4lrken geistigen · Kräften getragen, nicht nurvon materiellen Wünschen" und · erinnerte daran, sich über ein „Leben näch der Konsumgesellschaft" den Kopf zu zerbrechen. Die seit kurzem bestehende „ Gesellschaft des 2 1 . Jahrhunderts" der österreichischen Führungskräfte tue dies bereits.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung