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Fortschritte sind erzielt worden

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Ist der polnische Katholizismus ein „politischer“? Professor Stanislaw Stomma, einer der bekanntesten und einflußreichsten katholischen Intellektuellen Polens, lehnt diese im Westen gebräuchliche Klassifizierung entschieden ab. Der langjährige FURCHE-Autor, Jurist und Politiker, kürzlich auf Einladung des „Club Belvede-re“ zu Besuch in Wien, differenziert: Es sei immer die „mutige und schwierige“ Konzeption Kardinal Wyszynskis gewesen, daß die Kirche die Probleme der Nation „auf ihren Rücken nehmen“ müsse. Das bedeute: „Die Kirche soll die Einmischung in die Politik vermeiden, aber an wichtigen ethischen Problemen darf sie nicht vorbeigehen.“ Und dann setzt der weißhaarige Politiker noch einmal mit aller Bestimmtheit hinzu: „Zu den Menschenrechten kann die Kirche nicht schweigen.“

Für Stomma ist die augenblickliche Situation Polens - das politisch und ökonomisch dem Osten angehört und kulturell dem Westen - eingebettet in den breiten Strom der polnischen Geistesgeschichte: „Wir haben durch die Jahrhunderte fast ununterbrochen für die Menschenrechte gekämpft“ Achtung vor der Würde des Einzelmenschen, Pluralismus im kulturellen und sozialen Bereich und das Bekenntnis zum Christentum seien in der polnischen Geschichte ebenso wie für die polnische Jugend und Intelligenz heute die ausschlaggebenden Werte. Der Wissenschafter Stomma belegte seine These vom jahrhundertelangen Einsatz für die Menschenrechte mit eindrucksvollen Hinweisen auf die Geschichte der stolzen polnischen Adelsrepublik, die tatsächlich Freiheit des Glaubens gewährte, während sich die großen Nationen des Westens in

den grausamen Religionskämpfen des 16./17. Jahrhunderts zerfleischten.

Offensichtlich spielt das Bewußtsein der geschichtlichen Kontinuität auch im Polen von heute eine große Rolle. Zwar läßt Professor Stomma keinen Zweifel daran, daß auch in Polen bei den breiten Massen die Kirchlichkeit oft nicht sehr tief gehe. Aber zum Unterschied vom Westen werde in Polen die Kirche auch von jenen Menschen nicht abgelehnt, die nur eine oberflächliche Beziehung zum Wert- und Lehrgebäude der katholischen Kirche hätten.

Worauf diese Verankerung der Kirche auch im kulturellen Bereich zurückzuführen ist? Professor Stomma nennt hier vor allem jene gewaltige ideologische Offensive der Stalinisten, mit der in den Jahren von 1948 bis 1956 dem polnischen Volk eine neue, der Form nach polnische, dem Inhalt nach marxistisch-leninistische Kultur auf-

gedrängt werden sollte. Dieser Versuch habe aber nicht nur bei den Intellektuellen, sondern im ganzen polnischen Volk einen Prozeß des Nachdenkens über das Verhältnis von Form und Inhalt ausgelöst - mit dem Ergebnis, daß die traditionellen Werte der polnischen Kultur vom Volk hundertprozentig „ratifiziert“ wurden. Stom-ma: „Die große ideologische Offensive von damals ist total gescheitert.“ Und tatsächlich: Gibt es heute noch bekannte marxistische Theoretiker in Polen, nachdem Adam Schaff und Leszek Kolakowski abgewandert sind?

Den in allerjüngster Zeit von Edward Gierek eifrig betriebenen Prozeß der Normalisierung der Beziehungen zwischen Regierung und Kirche beurteilt Professor Stomma mit vorsichtigem Optimismus: „Fortschritte sind erzielt worden.“ Die Frage sei jetzt allerdings, wie der Begriff der Normalisierung verstanden werde, ob es nur um eine Normalisierung im organisatorisch-institutionellen Bereich oder um eine umfassende Normalisierung gehe, die dem Verlangen nach Mitbestimmung Rechnung trage.

Professor Stomma ist lange Jahre Vorsitzender der Fünf-Mann-Fraktion der unabhängigen katholischen Gruppe „Znak“ (Zeichen) im Sejm, dem polnischen Parlament, gewesen. Die Präsenz dieser Gruppe im Warschauer Parlament hatte tatsächlich „zeichenhaften“ Charakter, aus ihrem Abstimmungsverhalten ließ sich die Stimmung der katholischen Massen ablesen. Als „Znak“ dieser Charakter genommen werden sollte, zog Professor Stomma die Konsequenzen. Aber er ist Realist geblieben: Die polnischen Realitäten sind so, wie sie sind, und die Einordnung Warschaus in das östliche Lager wird nicht bestritten. Nur der versöhnliche Wunsch dringt in den Worten des polnischen Rechtsgelehrten und Politikers durch: Daß die geistige Auseinandersetzung in Polen endlich schöpferisch geführt werden könnte, als Dialog und nicht als Spiel von Druck und Widerstand.

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