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Fragen
Eine erstaunliche Erfahrung, eine erwachsene Tochter zu bekommen. Ganz einfach so, am hellichten Vormittag. Da sitzt sie mir gegenüber, und mit einiger Vorfreude auf die gemeinsam zu verbringende Zeit, die vor uns liegt, finde ich sogar, daß sie mir ähnlich sieht.
Wir reden miteinander, wie Mutter und Tochter miteinander reden könnten. Wir werden unsere gemeinsame Biographie erfinden müssen, denn wir besitzen wenig Hinweise auf sie, müssen uns aber an diese wenigen halten. Sie entnimmt ihr Verhältnis zu mir einem vor ihr liegenden Manuskript und ich das meine zu ihr ebenfalls.
Wir dürfen aber Phantasie entwickeln für die ungeschriebenen Zeilen zwischen den vorgeschriebenen. Wir sind neugierig aufeinander. Wir betreiben diese Merkwürdigkeiten aus beruflichen Gründen, wir sind beide Schauspielerinnen und beginnen mit der Arbeit an einem neuen Stück.
Diese Mutter hat ihrer Tochter alles erzählt, meint sie. Alles über die Kriegsjahre, alles über den geliebten Großvater, alles über das große Haus, in dem sie, die Mutter, aufwuchs und das jetzt den ehemaligen Angestellten gehört, denn sie wurden nach dem Krieg zur herrschenden Klasse im Lande.
Die Tochter ist informiert. Die Mutter ist nicht der Meinung, daß Kinder die Schlachten ihrer Eltern schlagen sollen. Mutter und Tochter könnten auf Befragen nur ungenau angeben, was sie einander wohl zeitlebens vorenthalten werden. Sie kommen nicht schlecht miteinander aus.
Plötzlich bin ich also ältere Generation. Kriegsgeneration. Im Stück. Muß mich befragbar machen nach den Jahren 1938 bis 1945, habe sie aus meiner Sicht zu erzählen. Weiß mich schuldlos und scheine es doch nicht zu sein. Saß mit den deutschen Besatzern an einem Tisch, pflog gesellschaftlichen Umgang mit ihren Offizieren.
Während draußen die Dienstleute die Partisanen unterstützten. Nach Kriegsende zogen diese Dienstleute in das große Haus als Herren ein, die ehemaligen Besitzer wurden zu mittellosen Flüchtlingen, blieben hei-mat—los für den Rest ihres gleichwohl gesicherten Lebens. Blieben Fremde. Wohl auch für ihre im sicheren Westen geborenen Kinder. Was die wohl wieder ihren Kindern erzählen? Falls diese noch fragen.
42 Prozent aller unter dreißig Jahre alten “Österreicher — die Enkel der Kriegsgeneration — können heute mit dem Datum .Marz 1938“ überhaupt nichts anfangen. Haben die nie gefragt oder ist ihnen nie etwas erzählt worden? Fragen, passend zum Stück.
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