6960227-1984_45_07.jpg
Digital In Arbeit

Fragezeichen im Vakuum Indien

Werbung
Werbung
Werbung

Indira Gandhi tot. Aus der Betroffenheit, mit der Staatsleute wie Margaret Thatcher oder Bruno Kreisky auf dieses Ereignis reagierten, konnte man mehr herauslesen als nur Trauer um den Verlust eines Menschen, mit dem sie die vielzitierte „Sorge um das Schicksal der Welt" geteilt hatten — was keineswegs immer eine leere Floskel sein muß.

Eben diese Sorge hat ja Indira Gandhis Tod vermehrt. Schlagartig wurde jedem politisch Denkenden bewußt, von welcher Bedeutung Indiens Stabilität bis zum Morgen jenes 31. Oktober gewesen war, mit welchen Unsicherheiten jetzt gerechnet werden muß. Das Vakuum, das diese Frau hinterläßt, kann noch niemand ermessen.

Als sie 1966 zum erstenmal Indiens Ministerpräsidentin wurde, waren der Hunger, die Bevölkerungsexplosion, das Analphabetentum, die Rechtlosigkeit der Kastenlosen und außenpolitisch die Angst vor dem Nachbarn China, Hauptprobleme des 400-Mil-lionen-Volkes.

Heute hat Indien keine Angst mehr vor China, dafür aber 700 Millionen Menschen, noch immer kann kaum jeder zweite lesen, noch immer sind die Kastenlosen vor dem Gesetz den anderen gleich, in der Praxis aber meist rechtlos.

Auf dem weltpolitischen Parkett war Indira Gandhi eine starke, imponierende Erscheinung. Auf dem weltpolitischen Parkett wußte sie die Sorge um das Schicksal der Welt zu tragen wie ein kostbares Diadem. Aber die innenpolitische Bilanz ihrer langen, durch eine mehrjährige Oppositionsrolle unterbrochenen Regierung ist düster.

Einerseits hat Indiens Industrialisierung unter Indira Gandhi imponierende Fortschritte gemacht, andererseits aber macht das Bevölkerungswachstum alle Bruttonationalprodukt-Zuwächse zunichte. Indira Gandhi war kein geduldiger Mensch. Die Programme zur Geburtenbeschränkung griffen ihr zu langsam. Die Gewaltsamkeit, mit der dann von der Polizei zusammengetriebene Menschen und mitunter ganze Dörfer zwangssterilisiert wurden, hat alle Geburtenkontroll-Programme zurückgeworfen und Indira Gandhi die Regierungsmehrheit gekostet.

Der Konflikt mit den Sikhs kostete sie das Leben. Ob Indiras Vater, Lehrmeister und Vorgänger, der so geduldige und behutsame Pandit Nehru, Wege zur Befriedung der aufbegehrenden Minderheit gefunden hätte - dar-

über heute zu spekulieren, ist müßig. Evident ist aber, daß Indira Gandhi, weit davon entfernt, solche Wege zu suchen, den Konflikt ihrerseits auf die Spitze getrieben hat. Der Sturm des Militärs auf den Goldenen Tempel von Amrit-sar, das Nationalheiligtum der Sikhs, riß einen Graben zwischen den rund zehn Millionen Sikhs und der großen Hindu-Mehrheit auf.

Dieses harte, ungeduldige Zupacken war eines ihrer immer wieder durchbrechenden Verhaltensmerkmale. Es war ihre Stärke und ihre Schwäche. Als der viel zu sanfte, viel zu passive unmittelbare Amtsnachfolger Pandit Nehrus, Shastri, nach nur 15 Regierungsmonaten starb, wünschte das Land eine starke Führerpersönlichkeit. Ironie der Geschichte: Die Unberührbaren im indischen Parlament, die Abgeordneten der (damals) 60 Millionen Ärmsten im Lande, gaben den Ausschlag für Frau Gandhi. Dem Sanften, der als Knabe mit seinen Schulbüchern durch den Fluß hatte schwimmen müssen, weil er nicht das Geld für die Fähre hatte, folgte die Exponentin der Familie, die das erste nach Indien importierte Privatauto besaß.

Dem Mann, dem die Politik eine Last gewesen war, folgte das fast in der Wiege auf die Politik vorbereitete politische Naturtalent.

Ich erinnere mich an viele lange Gespräche mit dem langjährigen FURCHE-Korrespondenten Peter Rindl, an Gespräche in Wien und Gespräche in Indien. Vielleicht ist seine fast verzweifelte Ambivalenz dieser Frau gegenüber, die er gekannt und die ihn als Gesprächspartner geschätzt hat, die einzige Haltung, die allen ihren Facetten gerecht wird: Er sah sie als Indiens Todesgöttin und doch als Indiens einzige Möglichkeit, einmal als das eine, dann als das andere, oft als beides zugleich.

Solang sie lebte, war sie Indiens einzige Möglichkeit. Dafür sorgte schon ihr Anspruch. Mit den Jahren wurde wohl die Freiheitskämpferin, die ein Jahr eine Gefängniszelle mit 22 anderen Frauen teilte, immer mehr zum Sproß des Hauses Nehru, dessen Mitglieder in vielen Positionen sitzen. Die Festlegung auf einen der Söhne als Nachfolger zeugt von diesem machtpolitischen Familiensinn.

Vielleicht wird es sich noch als Glück für Indien erweisen, daß statt dem wegen Korruption verurteilten Lieblingssohn mit dem Machtinstinkt der Mutter, der verunglückt ist, der apolitische Air-India-Pilot ihr folgt. Der sanfte Rajiv Gandhi hat zwar wenig Charisma, aber er ist auch keine Hypothek. Und Hypotheken hat Indien genug zu tragen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung