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Fragmente öffnen Türen zur Vergangenheit

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Die Akten über Leben und Sterben des unter dem Namen Ötzi in die Schlagzeilen der Medien gelangten Mannes aus dem Eis sind noch nicht geschlossen.

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Die Akten über Leben und Sterben des unter dem Namen Ötzi in die Schlagzeilen der Medien gelangten Mannes aus dem Eis sind noch nicht geschlossen.

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Rund siebzig Fachleute aus den Bereichen der Urgeschichte, der Medizin und der Anthropologie sowie den Naturwissenschaften spürten und spüren nach wie vor dem Schicksal des im Alter von 35 bis 40 Jahren in 3.200 Meter Höhe verstorbenen Mannes nach, der am 19. September 1991 in den Ötztaler Alpen, drei Kilometer westlich vom Similaun an einem alten Übergang von deutschen Bergsteigern entdeckt, nach diversen, sogar mit Preßlufthämmern durchgeführten Bergungsversuchen am 23. September im Innsbrucker Gerichtsmedizinischen Institut gelandet und am 24. September von einem Kriminalfall zu einer archäologischen Sensation avanciert ist.

Nicht zuletzt werden - weitflächiger als bei den vom 3. bis 5. Oktober 1991 dauernden ersten wissenschaftlichen Untersuchungen - auch heuer die Fundplätze des Mannes und seiner verstreut abgestellten Gerätschaft unter die Lupe genommen. Grabungsleiter wird abermals Andreas Lippert sein.

Das bedeutet: Der jüngst von der Innsbrucker an die Wiener Universität berufene Urgeschichtler wird während der Sommermonate mit seinem Team den gesamten mit Schnee und Eis gefüllten 20 Meter langen Schauplatz eines vor etwa 5.200 Jahren zu Ende gegangenen Lebens mittels Dampfbohrer auftauen. Danach wird das Wasser abgeleitet, alles lok-kere Material ausgefiltert und nach jedem Detail aus der Hinterlassenschaft des mumifizierten Menschen gesucht werden. Denn jeder Gegenstand, jedes Fragment eines Gegenstandes, kann einen Beitrag zur Erforschung der Vergangenheit liefern.

Als gesichert gilt immerhin, daß der Tote, von dem Kopf und Schulter aus dem seit 1965 langsam ausapern-den Gletscher herausgeragt sind, nicht aus der frühen Bronzezeit stammt. Die C-14-Unter-suchungen ergaben eine Datierung in die Zeit um 3200 v. Chr. Somit ist Ötzi älter als zunächst angenommen und gehört der jüngsten Phase der Jungsteinzeit, dem Spätneolithikum, an. Weil nun der Mensch in West-und Mitteleuropa in dieser Epoche gelernt hat, Kupfer abzubauen, wird das Spätneolithikum auch als Kupferzeit bezeichnet.

In der Kupferzeit, in der sich neben einer rein bäuerlich orientierten Gesellschaft Handwerker und Krieger herausbildeten, entstanden verschiedene Kulturen: in Norditalien beispielsweise die Remedellokultur, in Bayern und Nordtirol die Altheimkultur, Charakteristisch für die Remedellokultur sind Felszeichnungen und Menhire. Ihre Bedeutung ist ein Geheimnis geblieben. Eine der Theorien, der Lippert anhängt, hält die im Kreis oder Halbkreis aufgestellten Menhire mit ihren Einritzungen für Denkmäler der Ahnen- oder Götterverehrung. Dargestellt sind auf ihnen Sonnenscheiben oder betende Figuren, stilisierte Rinder mit großem Gehörn, Männer, die einen Pflug führen oder Pflüge, die von Rindern gezogen werden. Oftmals findet man auch Abbilder weiblicher Geschlechtsmerkmale und solche von männlichen Barten. Und es gibt, in großer Zahl sogar, Menhire mit breiten, dreieckigen Dolchen, dem stolzen Besitz des kupferzeitlichen Mannes. Gefunden hat man sie unter anderem in Südtirol bei Meran, im Aosta-tal und in Ligurien.

Signifikant für die Remedello- und die Altheimkultur sind Höhensiedlungen für maximal zehn Familien mit zwei- bis dreiräumigen Pfostenhütten. Bekannt geworden sind jene von Innsbruck-Hötting und vom Johanneskofel im Sarntheintal nördlich von Bozen. Als typisch gilt auch die Bestattung in Hockerstellung und die Sitte, den Männern Knochenpfrieme, Steindolche und Pfeile, den Frauen dagegen metallene Armreifen mit ins Grab zu geben.

Der seit dem 24. September 1991 in einem elektronisch kontrollierbaren Kühlraum des Innsbrucker Anatomischen Institutes unter Gletscherbedingungen bei minus sechs Grad Celsius und über 90 Prozent Luftfeuchtigkeit aufbewahrte Ötzi ist in normaler Schlafstellung erfroren. Später hat dann ein leichter seitlicher Eisdruck den Leichnam in Bauchlage gebracht und seinen Körper über den Felsblock nach vorne verschoben. Bei einem der mißglückten Bergungsversuche ist seine linke Hüfte beschädigt worden. Auch der Hinterkopf ist verletzt - vielleicht durch Vogelfraß. Der Mann mißt 1,60 Meter und weist einen grazilen Körperbau sowie einen mediterranen Langschädel auf. Sein rechtes Ohrläppchen zeigt Verwachsungen nach einem Durchstich und läßt auf Tragen von Ohrringen schließen. Beine und Füße des Mannes sind relativ zart. Der rechte Knöchel hat Tätowierungen in Form von drei senkrechten Strichen. Auf dem rechten Knie ist ein Kreuz eintätowiert. Auf dem Rücken befinden sich links vom Lendenwirbel Strichgruppen in blauschwarzer Farbe.

Dazu Andreas Lippert: „Schon jetzt ist klar, daß sie mit einer Kupfer- oder Knochennadel unter Verwendung von Kohleruß gemacht worden sind." Weil sie sich auf ursprünglich von der Kleidung beziehungsweise den Schuhen bedeckten Stellen befinden, hält er sie nicht für Rangabzeichen, sondern für auf die eigene Person bezogene Symbole, eventuell für Gücks-bringer.

Die sehr fragmentarisch erhalten gebliebene Kleidung besteht aus vielen kompliziert zusammengenähten Fellstreifen von Garns, Hirsch und Rind. Lippert möchte sie einem Priester oder Schamanen zuordnen, auf jeden Fall einer sozial höher gestellten Persönlichkeit. Dafür spricht ja auch der Besitz eines Beiles mit einer neun Zentimeter großen Klinge aus fast reinem Kupfer. Einem Jäger oder Hirten hätte die Waffe nichts genützt, weil Kupfer zu weich ist, um einem Gegner Schaden zuzufügen.

Wer also war der Mann? Die Akten über ihn und seine Zeit können sicher noch lange nicht geschlossen werden.

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