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Frankreich: Krieg der Kopf

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Nachdem in Frankreich der Wahlkampf nun mit aller Heftigkeit eingesetzt hat, ist Paris voll der unwahrscheinlichsten Gerüchte. Die Positionen der einzelnen Politiker werden genau abgewogen, die Versprechungen, Enunziationen und Programme der Parteien sorgfältig geprüft. Im Hintergrund schwebt eine Flut häßlicher Intrigen, wobei fast immer alle politischen Parteien und sonstige Kräfte ihre Finger im Spiel haben. Wer unter der Oberfläche dieser Auseinandersetzungen nach ideologischen Unterschieden sucht und die Kandidatenlisten betrachtet, muß unbedingt auch einen Blick auf einige andere Elemente der französischen Innenpolitik werfen. Verwiesen sei auf die gegenwärtige Verfassung, die zu Beginn der gaullistischen Herrschaft in einem Referendum eine überzeugende Mehrheit gefunden hat. In diesem Grundgesetz wurde auch die Stellung des Staatspräsidenten zementiert.

Eigentlich handelt es sich dabei um eine Art politisches Kleidungsstück, das für die überragende Figur des Generals De Gaulies maßgeschneidert worden war. Das wesentlichste Merkoial der auch heute noch gültigen Verfassung: Die Nation überträgt in einer allgemeinen Wahl ihre Souveränitätsrechte auf den Staatschef, der die Geschicke des.Landes zu leiten hat. In dieser Konstellation verloren die gesetzgebenden Versammlungen ihre Macht, die sie in der Vierten Republik noch in reichem Ausmaß besessen hatten. Von 1945 bis 1958 regierten praktisch Parteienregime, wobei kleine Splitterparteien oft den Ausschlag gaben, ob diese oder jene Regierung im Amt bleiben konnte oder abtreten mußte.

Staatschef Charles De Gaulle hat sich nachweisbar nie in die Parteienhader eingemischt. Er hielt dies in seiner charismatischen Sendung für unter seiner Würde. Sein Nachfolger Georges Pompidou führte diese Tradition ohne besondere Schwierigkeiten fort. Erst der jetzige Staatschef Valerie Giscard d'Estaing hat - ohne es selbst feierlich zu proklamieren - dem Parlament mehr Funktionen eingeräumt, als dies in den Intentionen des Generals De Gaulles einst gelegen war.

Die politischen Parteien witterten darauf Morgenluft und stießen besonders in das politische Vakuum des Mittelstandes vor, u't sich die Stimmen dieser zahlenmäßig geringen, zur Ab-rundung der eigenen Resultate aber trotzdem wichtigen Wählerschicht zu sichern. Denn alle Versuche, die rund um Giscard d'Estaing eingeleitet worden waren, das kleine und mittlere Bürgertum politisch zu erfassen, waren bisher gescheitert. Dennoch entwickelten sich die Parteien ab 1974 sehr lebhaft, insbesondere auch die beiden Massengruppierungen: Die Kommunistische Partei zählt rund 600.000 Mitglieder, die gaullistische Sammelbewegung RPR wird vorsichtig auf noch nicht 500.000 eingeschriebene Anhänger geschätzt.

Genauso wie einzelne politische Gruppierungen der Mitte haben diese Massenparteien einen mehr oder weniger funktionierenden Apparat geschaffen. Dieser Prozeß ereignete sich zwar durchaus vor den Augen der Öffentlichkeit, trotzdem muß der Beobachter jetzt eine eigenartige Entwicklung des Wahlkampfes feststellen. Die Politiker erscheinen immer häufiger im Fernsehen oder verkünden ihre Thesen in oft langatmigen Radiosendungen, von neuen und jungen Kräften jedoch, die die Basis in die Parteispitzen einschleust, sieht und hört man nichts. Dem Bürger empfehlen sich höchstens zwei Dutzend Spitzenpolitiker (wenn es überhaupt soviele sind), die ihre Parteien mehr oder weniger gut repräsentieren.

Nie zuvor wurden in Frankreich Wahlen so stark personifiziert, wie vor dieser wichtigen Entscheidung im März 1978: Marchais ist praktisch die Kommunistische Partei, die meisten Mitglieder seines Politbüros sind hingegen für die öffentliche Meinung' fast unbekannte Größen. Das gaullistische RPR und dessen gut funktionierende Politapparatur wird ebenfalls nur von einem Mann inspiriert, gelenkt und geformt: dem Bürgermeister von Paris, Jacques Chirac. Noch stärker tritt dieses Phänomen bei den Sozialisten auf: Mitterrand wurde zu einem wahren Halbgott hochstilisiert, der allein im Stande sei, so vielfältige,' einander mitunter widersprechende Tendenzen innerhalb der SP zu neutralisieren und die Partei zur stärksten Wählerpartei der Fünften Republik zu machen. Neben Mitterrand tauchen auch einige hoffnungsvolle Nachwuchskräfte auf, darunter der politisch hochbegabte Michel Roccard, der gelegentlich schon als präsumpti-ver Nachfolger des „Parteipapstes“ genannt wird. Die kleineren Parteien des Zentrums und der gemäßigten Linken haben sich diesem Trend angeschlossen und richten das Scheinwerferlicht auf ihre Führer, von denen vor allem Jean Lecanuet vom MRP -der Demokratischen Mitte - und Jean-Jacques Servan-Schreiber von den Radikal-Sozialisten auch außerhalb Frankreichs bekannt sind.

Verfolgt man die ersten heftigen Attacken der einzelnen Politiker, fällt es selbst einem Kenner der politischen Landschaft Frankreichs schwer, daraus Schlußfolgerungen für die künftige politische Gestaltung der Nation zu ziehen. Seit September 1977 bekämpfen Sozialisten und Kommunisten einander, wobei die Schuld für diesen Konflikt eindeutig bei den Kommunisten hegt. Wie weit im Hintergrund ein Wink aus Moskau mitgewirkt hat, das gar kein Interesse am Sieg einer Volksfront in Paris zeigt, bleibe dahingestellt. Marchais und seine Genossen sind jedenfalls nicht mehr gewillt, die zweite Geige als Repräsentanten der Arbeiterklasse zu spielen. Lieber verzichtet die KPF auf einen Sieg, der Mitterrand und seinem Team die Vormachtstelllung als Partei der Arbeiterschaft sichern würde. Marchais hofft zwar immer noch auf ein Wunder (für einen Atheisten etwas befremdend), wenn er sich 25 Prozent Wählerstimmen erwartet. Dann wäre immer noch Zeit genug, schweren Druck auf Mitterrand auszuüben.

So seltsam es klingen mag: Auch in der Mehrheit spielt sich dasselbe ab wie bei den Linksparteien. Jacques Chirac und seine Gefährten wollen weiterhin mit der Präsidentenmehrheit die erste Partei sein, von der die Regierung direkt oder indirekt abhängt. Sicherlich haben die Experten des Elyseepalastes die Vitalität Chi-racs und die Verankerung des Gaul-lismus in weiten Kreisen der Bevölkerung unterschätzt Fest steht, daß der Staatspräsident mit einer Spaltung der RPR gerechnet und den Aufstieg der drei Mittelparteien erwartet hat. Diese Prognosen haben sich jedoch vorläufig als falsch herausgestellt: Chirac ist weiterhin der unangefochtene Chef einer Partei, die in unzähligen Massenkundgebungen bereits demonstriert hat, daß sie bei der Neuverteilung der Mandate noch ein gewichtiges Wort mitzureden hat.

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