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„Frau Seidenmans“ Folgen

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An der ulica Parkowa, dieser unscheinbaren Straße Warschaus, ist derzeit der aktivste Pol der polnischen Literatur zu finden. Mit Frau, Sohn, Schwiegertochter, Enkel, fünf Hunden sowie sechs Katzen wohnt hier Andrzej Szczypiorski, der Autor jenes Romans, der heuer im deutschsprachigen Raum wochenlang die Spitzen der literarischen Bestsellerlisten hielt und noch hält.

Szczypiorskis „Schöne Frau Seidenman“ hat, ausgehend vom

Diogenes-Verlagshaus in Zürich, einen Siegeszfg angetreten, der mittlerweile die (Sprach-)Gren-zen von einem Dutzend Länder passiert hat. (FURCHE 18/1988) Der ungewöhnliche Erfolg des Buches hat denn auch einen ungewöhnlichen Hintergrund.

Szczypiorski schloß den Roman, der eine Handvoll höchst gegensätzlich beschaffener Schicksalsfäden virtuos zu einem nüchternen Bild der Warschauer Gesellschaft während des Zweiten Weltkriegs verwebt, 1985 ab. Wie alle regimekritischen Schriftsteller machte er keinen Versuch, das Manuskript bei einem der verpönten Staatsverlage unterzubringen: „Ich überließ es wie üblich der nächstbesten Untergrundedition. Diese stellte fünftausend Bücher her, die nach wenigen Stunden abgesetzt waren. Weil nun hierzulande verbotene Publikationen dank regem Austäusch unter Bekannten in der Regel von etwa dreißig Personen pro Exemplar gelesen werden, dürfte ich in Polen eine größere Leserschaft erreicht haben als mit der bisher 80.000fach verkauften deutschen Ausgabe.“

Diese Gewißheit ist dem 64jäh-rigen Warschauer äußerst wichtig. Immer wieder betont er, seine Arbeiten seien allen Widrigkeiten zum Trotz auf das polnische Publikum ausgerichtet. „Der internationale Durchbruch ist zwar erfreulich, doch ändert er nichts an meiner Einstellung. Dies nicht zuletzt, weil das alles schließlich auch sehr spät kommt. Ich habe vor der .Frau Seidenman' über zwanzig andere Romane, Erzähl-und Essaybände publiziert und kann in Polen schon seit Jahrzehnten mit öffentlicher Beachtung rechnen. Hier wird das weiter so bleiben, während man mich im Ausland in ein paar Monaten möglicherweise wieder vergessen hat.“

Vorerst ist diese Gefahr allerdings noch nicht akut. Seit letztem Frühling lebt der Pole als Reisender „in Sachen Seidenman“, und nun steht übergangslos die Promotionstournee für das eben ausgelieferte nächste Buch an: „Eine Messe für die Stadt Ar-ras“ wird bei der Frankfurter Buchmesse fraglos überschwenglich begrüßt werden, obschon das Werk bereits vor siebzehn Jahren in Warschau und später übersetzt auch in Ostberlin erschienen ist.

Das Interesse an Andrzej Szczypiorski hat — seiner Heimat gemäß — neben dem literarischen noch einen politischen Hintergrund. Die westlichen Medien haben hier eine „neue“ Stimme entdeckt, die jedwedes Problem der polnischen Nation ohne Zögern (in fließendem Deutsch) zu kommentieren bereit ist, so etwa auch die aktuelle Annäherung von Regime und Opposition im Land: „Dieses idiotische System, das auf seit Jahrzehnten verschwundenen Gesellschaftsstrukturen basiert, hat sich längst überlebt, die Wirtschaft ist am Ende, die aktuelle Gesprächsbereitschaft ist weniger Konzession als Gebot der Stunde.“ Für weit harmlosere

Aussagen als diese sah sich Szczypiorski Mitte der siebziger Jahre zur persona hon grata degradiert, was sich beispielsweise am ominösen 13. Dezember 1981 (Verhängung des Kriegsrechtes) in sofortiger Inhaftierung ausdrückte.

Inzwischen hat sich aber nicht nur das politische Klima, sondern auch die individuelle Position Szczypiorskis verändert. Das Renommee dieses Schriftstellers hat einen solchen Grad erreicht, daß er von offizieller Seite weder (wie früher) hingebungsvoll schikaniert, noch einfach ignoriert werden kann. So wurde sein erfolgreicher Roman diesen Sommer gleich in zwei regimetreuen Gazetten besprochen, obwohl er gewissermaßen gar nicht erschienen sein durfte. Diese paradoxe Situation könnte sich bald ändern, zumal sich der polnische Minister für Kunst und Kultur, Krawczuk, kürzlich persönlich bei Szczypiorski erkundigte, ob er das Manuskript auch einem staatlichen Verlag überlassen würde. Keine Frage, daß eine ungehinderte Heimkehr der „Schönen Frau Seidenman“ aus dem publizistischen Exil ihren Schöpfer mit enormer Genugtuung erfüllen würde.

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