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Frei ist nur jeder dritte

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Fortschritten in Chile, Südafrika, Polen und Jugoslawien stehen Rückschläge in Malta, Sri Lanka, Zaire, Simbabwe gegenüber. Die Entwicklung in Lateinamerika ist „per Saldo" gut.

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Fortschritten in Chile, Südafrika, Polen und Jugoslawien stehen Rückschläge in Malta, Sri Lanka, Zaire, Simbabwe gegenüber. Die Entwicklung in Lateinamerika ist „per Saldo" gut.

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Mit Jahreswende 1983 lebten schätzungsweise 4,663 Milliarden Erdbewohner in 166 souveränen Staaten und 54 halbautonomen Territorien. Davon durften sich 1,67 Milliarden oder 36 Prozent zur „freien Welt" zählen, 1.075 Milliarden (23 Prozent) waren „halbfrei" und 1,918 Milliarden (41 Prozent) nicht frei.

Die Bewertung nimmt seit 1973 die private US-Organisation Freedom House vor, die sich der „Stärkung demokratischer Institutionen" verpflichtet weiß. Sie gilt als konservativ-liberal, was mancher ihrer Bewertungen eine besonders pikante Note verleiht.

Zum Beispiel hat Freedom House 1983 nicht nur Chile und Südafrika, sondern auch Jugoslawien und Polen aus der Kategorie der nichtfreien in die Gruppe der teilweise freien Länder transferiert. In einer Begründung dazu heißt es, daß alle vier Staaten auf den „untersten Sprossen" der „Leiter" der Halbfreien gelandet seien, und dies mehr durch die Anstrengungen der betreffenden Völker als durch Zugeständnisse der Regierungen.

Auch in Mozambique und in Liberia wurde eine Verbesserung der Bürgerrechtssituation registriert, in Panama sind die Zeitungen ein bißchen freier geworden. Besonders groß sind die mit dem Machtwechsel von einer Militär- zu einer Zivilregierung in Argentinien verbundenen Hoffnungen.

Abwärts ging es demgegenüber vor allem im sozialistisch regierten Malta, wo Kreiskys Ex-Telefonpartner Dom Mintoff Opposition und katholische Kirche immer brutaler einschüchtert.

Auch auf den Philippinen, in Sri Lanka (früher Ceylon), in Bangladesch, Guayana, Zaire und Simbabwe (früher Rhodesien) sind Demokratie und Menschenrechte auf dem Rückzug. Doppelt bemerkenswert, daß Freedom House aber auch die wachsende Militarisierung in Honduras und den US-Coup auf Grenada zu den Verschlechterungen zählt.

Gewertet wird nach dem Verwirklichungsgrad politischer Mitbestimmungs- und individueller Bürgerrechte; das Ergebnis ist eine Art ..Mischnote".

Zum Beispiel sei, so argumentiert Freedom House, in Südafrika eine viel größere Kritikfreiheit als etwa in Jugoslawien gegeben. Dagegen sei die Unterdrückung der Schwarzen in Südafrika radikaler als die der Jugoslawen.

Ein kritisches Urteil über Südafrika fällt auch der österreichische Völkerrechtsexperte und ÖVP-Wehrsprecher, Univ.-Prof. Felix Ermacora, der mit seinem eben erschienenen Afrika-Band seiner „Menschenrechte" wieder einmal alle jene Lügen straft, die ihm in bekannter Simplifizie-rungsmanier die Marke „erzkonservativ" anzuhängen versuchen.

Ermacora untersucht in dem 700-Seiten-Konvolut Verfassungslage und Praxis in den 38 Staaten Schwarzafrikas, dem weiß dominierten südlichen Afrika und den 17 arabischen Staaten Afrikas und des Nahen Ostens.

Seine nicht überraschende Schlußfolgerung (s. Auszug auf dieser Seite): Theorie und Praxis klaffen oft weit auseinander. Das fällt nicht nur bei den arabischen Staaten auf, die z. B. nahezu durchgehend der Frau Gleichberechtigung zuerkennen, obwohl die Praxis „ein krasses Verhältnis von Unter- und Uberordnung zeigt" (Ermacora, S. 441).

Kein arabischer Staat kennt eine ausdrückliche Anerkennung des Rechts auf Leben, wohl aber enthält eine solche die Umfassende Islamische Menschenrechtserklärung vom 19. September 1981.

Auch Israel fällt auf: Es kennt ebensowenig wie Südafrika einen Menschenrechtskatalog in der Rechtsordnung, und auch die Menschenrechtspraxis „führt zu einer Reihe von Durchbrechungen des menschenrechtlichen Solls" (Ermacora, S. 506), die immer mit dem De-fäcto-Kriegszu-stand seit 1947 und Terror erklärt würden.

Südafrikas Apartheid klassifiziert Ermacora ohne Wenn und Aber als „systematische Rassendiskriminierung" (S. 595) und die Homeland-Politik der Regierung von Pretoria als „typischen Ausdruck der Apartneidpolitik" (S. 591).

Auch die vielen Dokumente, Schriftstücke und Verträge, die Ermacora — häufig in Originalsprache — wiedergibt, machen sein Buch zu einer schier unerschöpflichen Auskunftsquelle (wenn man bereit ist, sich von der oft mühsamen Suche nicht abhalten und von dem, sagen wir: Non-perfektionismus der Sprache nicht irritieren zu lassen).

Man hofft, daß der Rechtsgelehrte sich auch an eine Aufarbeitung der lateinamerikanischen Szene macht, wo Theorie und Praxis nicht weniger auseinanderklaffen.

Lateinamerika-Kommentator Robert J. Alexander von Freedom House findet, daß Menschenrechte und Demokratie „per Saldo" in Lateinamerika 1983 „bescheidene Fortschritte" gemacht hätten.

In Argentinien und in Venezuela wurde frei gewählt. In Costa Rica, Kolumbien, der Dominikanischen Republik sei die Demokratie „mehr oder minder gesichert". In Bolivien, Peru, Ekuador sei sie trotz schwerer Wirtschaftskrisen nicht gefährdet, in Brasilien mache sie bescheidene Fortschritte, in Uruguay wurde „eine der ältesten Diktaturen des Kontinents" auf dem Verhandlungsweg beendet. Chef-Bösewicht des Erdteils bleibt Alfredo Stoessner, Paraguay.

Die Menschenrechtssituation in Nikaragua bewertet Freedom House als „einigermaßen zweideutig": Zensur und Einschüchterung der Opposition werden der immerhin vorhandenen Parteienvielfalt gegenübergestellt.

Uber Nikaragua ist in dieser Zeitung und in anderen österreichischen Medien in letzter Zeit viel geschrieben worden. Von Freedom House so wie Ef Salvador und Honduras als „teilweise frei" eingestuft, kontrastiert es zu Recht mit Costa Rica („frei") und Guatemala („unfrei").

Polizeihaft ohne Rechtsverfahren, Entführungen, einzelne Fälle von Folter, Indianerumsiedlung sind verdammenswert. Noch mehr verdammenswert sind Indianermord, wie er tausendfach in Guatemala, und Massenmord,wie er auch in El Salvador betrieben wird.

Die De-facto-Alleinherrschaft der Sandinisten mit einigen Alibi-Parteien als Aufputz unterscheidet sich kaum grundlegend von Mexiko — nur daß dort alle sechs Jahre ein Präsident gewählt wird, dessen Clique wegen Nicht-wiederwählbarkeit den Korruptionsdurst in jeweils sechs Jahren stillen muß.

Nirgendwo in der Politik gibt es die Wahl zwischen Gut und Böse. Die größeren und kleineren Übel, zwischen denen zu entscheiden ist, sind in Lateinamerika im Regelfall ziemlich groß, nie winzig. Wer nur helfen möchte, wo alles in bester Ordnung ist, sucht in Wahrheit Vorwände, nicht helfen zu müssen.

Entwicklungshilfe soll geleistet werden, wo Aussicht besteht, Menschen auf Dauer ein menschenwürdigeres Dasein zu ermöglichen. Das bewirken die Radiolehrer in Costa Rica und die Entwicklungshelfer in Nikaragua, das leisten die Solidaritätsund Hilfskomitees für Nikaragua und nicht zuletzt Hans Klinglers Verein „Solidarität mit Lateinamerika", der allein 1983 drei Millionen Schilling nach Zentralamerika transferierte, um einer Gewerkschaft eine Sekretärin oder ein Auto zu finanzieren.

Für sie alle gilt, daß „die Verwirklichung der Menschenrechte ein Beitrag zur Freiheit in ihrer geschichtlichen Entwicklung ist" (Ermacora, S. 3).

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