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„Frei selbst regieren und selbst verwalten”

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Am30. oderil. März 1945 warf Josef Stalin in der „Stavka”, dem obersten sowjetischen Führungsorgan, die Frage auf, wer in Österreich die Zentralverwaltung aufbauen sollte. In diesem Zusammenhang stellte Stalin die Frage, was eigentlich aus Karl Renner geworden sei, ob es den „A Iten” noch gäbe. Da niemand eine A ntwort darauf wußte, erging an die 2. und 3. Ukrainische Front der Befehl, Renner zu suchen. Was dann alles geschah, beschreibt der Historiker Manfried Rauchensteiner in seinem Buch „Der Sonderfall”, aus dem wir diesen Beitrag auszugsweise entnommen haben.

/\m I. April 1945 erreichten die sowjetischen Truppen die Südbahnlinie im Raum Gloggnitz. Es wiederholte sich, was schon in Tausenden Orten entlang der sowjetischen Vormarschlinie geschehen war. Die Russen durchsuchten Haus für Haus nach deutschen Soldaten. Den Kampftruppen folgten Etappeneinheiten, es kam zu Ubergriffen, und Renner machte sich am 3. April zum Anwalt der bedrängten Bevölkerung. Er suchte die Ortskommandantur auf, die unmittelbar nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in jedem größeren Ort eingerichtet wurde, sagte, wer er sei, und bat um Schonung der Bevölkerung.

Was dann geschah, konnte sich Renner nicht erklären, konnte sich niemand bis vor wenigen Jahren erklären. 1972 erschienen jedoch die Memoiren des sowjetischen Generals S. M. Stemenko, der der Stavka angehört hatte. Und Stemenko machte klar, was hier geschehen war: Die Russen hatten Renner gesucht; daher war auch dem Politoffi-zier der 103. Garde-Schützendivision der Name Renner so bekannt, daß er ihn aufforderte, sofort nach Köttlach mitzukommen und von hier nach Hochwolkersdorf, wo sich das Hauptquartier der sowjetischen 9. Garde-Armee befand.

„Stemenko machte klar, was hier geschehen war: Die Rus~ sen hatten Renner gesucht”

Von dort begannen die Drähte nach Moskau heißzulaufen, und Renners Persönlichkeit und seine Ansichten wurden über Tausende Kilometer hinweg sondiert. Was hier besprochen wurde, schilderte Renner noch 1945 in seiner „Denkschrift über die Geschichte der Unabhängigkeitserklärung Österreichs und die Einsetzung der Provisorischen Regierung der Republik”. Und hier bekennt er auch klar ein, daß er schon seit Jahren damit gerechnet hatte - vielleicht wäre besser zu sagen gewesen: gehofft hatte -, daß man ihn wieder brauchen würde.

Er bot sich daher nach einer entsprechend direkten Frage der Russen auch an, und zwar unter Hinweis auf seine Rolle in der Ersten Republik, vor allem auch auf seine Tätigkeit bei den Friedensverhandlungen in Saint-Germain sowie als letzter Präsident eines freigewählten österreichischen Nationalrats.

Die Intentionen Stalins und Renners trafen sich. Renner schien der Mann zu sein, den die Sowjetunion suchte, um rasch eine österreichische Zentralverwaltung zu schaffen ...

Stalin dürfte keinen Augenblick gezögert haben, als er ihn suchen ließ. Vielleicht nur deshalb, weil er ihm als erster einfiel, weil er mit Renner bestimmte Vorstellungen verband. Es ist

„Ganz gewiß aber täuschten sich diejenigen, die sich Renner bereits als senilen Greis vorstellten” auch nicht auszuschließen, daß er ihn zunächst nur als jenen Mann ansah, der in dem von sowjetischen Truppen besetzten Gebiet die Verwaltung übernehmen sollte.

Besonders intime Kenner der Ren-nerschen Formulierungen hätten auch mit einem wissenden Lächeln feststellen können, daß sich Renner bei der Erwähnung seiner Rolle in der Ersten Republik den Russen mit genau denselben Worten empfahl, mit denen er 1938 sein berühmtes Ja zum Anschluß untermauert hatte.

Ganz gewiß aber täuschten sich diejenigen - sollte es solche überhaupt gegeben haben -, die sich Renner bereits als senilen Greis vorstellten. Er war alles andere! Für die Zweite österreichische Republik konnte es kaum eine geeignetere Gallionsfigur geben als gerade jenen Mann, der die Erste Republik mitbegründet hatte.

In Hochwolkersdorf wurde also nur ein wenig taktiert. Renner sollte ein Memorandum an die Rote Armee richten, in dem er seine Absichten kundtat. Das lehnte Renner ab, weil er nicht als Beauftragter der Roten Armee an seine Tätigkeit herangehen wollte. Er versprach aber, alle seine Aufrufe den Russen zur vorherigen Einsicht vorzulegen, sie über seine Absichten im vorhinein zu informieren. Und so geschah es auch.

Auf Schloß Eichbichl verfaßte Renner seine ersten Proklamationen, in denen auch schon von der „Zweiten Republik” gesprochen wurde. Der alte Staatsmann richtete aber auch einen sehr geschickt abgefaßten Brief an Stalin (siehe Kasten), in dem er die Unterstützung des Generalissimus erbat. Er zog hinter den sowjetischen Streitkräften her, durfte am 20. April zum erstenmal nach Wien und konnte politische Kontakte knüpfen.

Renner war von einem beträchtlichen Sendungsbewußtsein erfüllt. Die Legitimation durch die sowjetische Regierung hatte genügt, ihm das Gefühl zu geben, daß er sämtliche Fäden in der Hand hielt. Als erstes suchte er den persönlichen Kontakt zu Leopold Kun-schak, dem alten christlichsozialen Arbeiterführer, an dessen demokratischer Gesinnung nie zu zweifeln gewesen war. Er sah in Kunschak - völlig zu Recht -die Anlaufstelle der alten und neuen christlichsozialen Gruppen, die sich mittlerweile in der österreichischen Volkspartei formierten.

Kunschak dürfte ihn seiner vorbehaltlosen Unterstützung versichert haben. Alle weiteren Gespräche wurden dann schon auf breiterer Basis geführt, und zwar mildern Ziel, eine handlungsfähige provisorische Regierung zustande zu bringen. An diesen Gesprächen nahmen Vertreter der designierten politischen Parteien teil, von denen die sozialistische und die Volkspartei allerdings noch um die formelle Anerkennung durch die sowjetischen Stellen rangen...

Erst als die Verhandlungen zur Bildung der Provisorischen Staatsregie-rung schon praktisch abgeschlossen waren, hielten es die sowjetischen Regierungsstellen für angebracht, ihre westlichen Verbündeten zu informieren. Der Stellvertretende Außenminister Andrej Visinskij, also ein Mann der zweiten Reihe, dessen Rang unterstreichen sollte, daß die sowjetische Regierung nicht allzu Wichtiges mitzuteilen hatte, ließ den Geschäftsträgern der USA und Großbritanniens in Moskau am 26. April eine mit 24. April datierte Nachricht zugehen, in der es hieß: „Als die Rote Armee österreichischen Boden betrat, machte sich der ehemalige Kanzler der österreichischen Republik und letzte Präsident einer freien österreichischen Volksvertretung, Karl Renner, gegenüber dem sowjetischen Kommando erbötig, den Alliierten jegliche Hilfe bei der Befreiung und Wiedererrichtung eines unabhängigen Staates angedeihen zu lassen. Nachdem die sowjetischen Streitkräfte Wien betreten hatten, informierte Karl Renner das sowjetische Kommando von seinem Wunsch, eine provisorische österreichische Regierung zu bilden.”

Er habe dabei auf seine Berechtigung als letzter Nationalratspräsident hingewiesen und habe vorgeschlagen, alle früheren Abgeordneten des Nationalrats, die sich auf dem von Russen befreiten Territorium befänden, zusammenzurufen, um mit ihnen über die Regierungsbildung zu beraten ...

Trotz der vorsichtigen sowjetischen Formulierung schlug die Nachricht in London und in Washington wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein. Am 27. April wurde in London über die veränderte Situation beraten, von der einer der leitenden Beamten im britischen Außenamt, Minister O'Neill, meinte, man habe schon die ganze Zeit befürchtet, daß so etwas passieren könnte.

Die Engländer aber wollten auf ihrem Weg der kleinen Schritte, des allmählichen Aufbaus von unten her, und das auch erst nach Installierung einer alliierten Kommission, beharren.

Genau zum selben Zeitpunkt, da sie sich darauf festlegten, hielt Renners Provisorische Staatsregierung ihre erste Sitzung ab ...

Am selben Tag wurden drei Proklamationen verabschiedet: I. die Unabhängigkeitserklärung, die von Renner und Schärf für den Vorstand der SPÖ, von Kunschak für die ÖVP und von Ko-plenig für die KPÖ unterzeichnet wurde. Die 2. Kundmachung hatte die Bildung der Provisorischen Staatsregierung zum Inhalt und nannte deren Mitglieder. Und schließlich kam als 3. die Regierungserklärung, die zur Wiedererrichtung der Gemeinde-, Bezirks- und Landesverwaltungen aufrief, die Österreicher in der Deutschen Wehrmacht aufforderte, die Waffen niederzulegen, und die Absicht der Regierung bekundete, mit Hilfe der Alliierten Österreich „innerhalb seiner Grenzen frei selbst regieren und selbst verwalten” zu wollen.

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