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Freiheit des Erwähltseins

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Die Frage, wie Toleranz möglich wird, erhält vom Wortsinn her die Antwort: durch Erdulden. Diese Auskunft wirkt heute höchst anstößig. An Luthers Formel: „Fides nihil, Charitas onmia tolerat" (Der Glaube duldet nichts, die Liebe alles) ruft die ja gewohnte Vorstellung von einem intoleranten Glauben weniger Widerspruch hervor als die Zumutung einer alles erduldenden Liebe.

Das hervorstechende Merkmal unserer Zeit ist aktivistische Ungeduld. Sie äußert sich aber in extrem gegensätzlichen Symptomen: einer gesteigerten Sensibilität und Einsatzbereitschaft für Behinderte und Unterdrückte so-

wie einem schamlosen und zugleich wehleidigen Anspruchsund Interessendenken.

Dabei können sich extreme Erscheinungsweisen von Toleranz und Intoleranz vermischen. Das Eintreten für andere wird leicht zu eigenen Agitationszielen benutzt. Und was die Belastbarkeit betrifft, so ist die allzu menschliche Perversion heute vielleicht besonders stark ausgebildet: bereitwilligst zu ertragen, was man nicht ertragen sollte, und keinesfalls zu ertragen, was man ertragen sollte.

Nun steht hinter der Animosität gegenüber einer grenzenlosen Toleranz der Liebe der an sich berechtigte Protest gegen verantwortungslosen Passivismus und bequeme Untertanenmentalität.

Das wäre jedoch nicht die Art starker, leidensfähiger Liebe. Ihrer aber bedarf es zu echter Toleranz. Denn alle Verständigungsbemühungen in Konflikten religiöser, politischer, wirtschaftlicher oder privater Art erfordern von den Partnern ein Tragen an den Differenzen, ein Hinhören und gegenseitiges Geltenlassen, viel Geduld und gegebenenfalls ein Leiden unter unüberbrückbaren Gegensätzen.

DieVernunftkannzwarderglei-chen fordern sowie zu sachlicher und persönlicher Disziplin anhalten. Aber wie es nicht Sache der Vernunft ist, zu lieben und zu leiden, so ist sie auch nicht die Kraftquelle dafür.

Hier .liegt der entscheidende Beitrag des christlichen Glaubens zum Toleranzproblem, nicht in

Gestalt einer indifferenten resignierenden Duldsamkeit, sondern als eine Toleranz der Freiheit und der Wahrheit. So entspräche Toleranz dei- Toleranz Gottes.

Die Verbindung von Toleranz und Freiheit erscheint selbstverständlich: ob man nun dabei an das Zugeständnis einzelner minimaler oder weitgehender Freiheitsrechte denkt oder an die Anerkennung des Anrechts auf Freiheit als zur Menschenwürde gehörig. Die Radikalisierung im Verständnis von Freiheit zu etwas, was das Wesen des Menschen selbst betrifft, ist theologisch so ernst zu nehmen, daß man nicht etwa dabei stehen bleiben darf, sie von der Gottebenbildlichkeit her zu begründen, was ja in Patri-stik und Scholastik längst vorbereitet war.

Vielmehr ist die Frage nach der Ursache von Unfreiheit über äußere und partielle Phänomene hinweg an den Menschen selbst zu richten. Wie steht es mit seiner Freiheit zur Freiheit, mit dem Gebrauch, den er von ihr macht, mit den Auswirkungen einer äußeren Befreiung, der keine innere Befreiung entspricht? Indem das Augenmerk darauf. gerichtet wird, wandelt sidh auch das Freiheitsverständnis selbst: Aus der unbestimmten Freiheit der Wahl wird die entschiedene Freiheit des Erwähltseins, aus der Freiheit egozentrischer Souveränität die souveräne Freiheit zum Dienen in Liebe. Das ist Geist der Toleranz.

Mit der Beziehung von Toleranz und Wahrheit scheint es sich entgegengesetzt zu verhalten. Die Toleranzidee der Neuzeit beruht doch offensichtlich auf der politisch notwendig gewordenen Suspendierung der Wahrheitsfrage. Eine Entscheidung zwischen konkurrierenden Wahrheitsansprüchen ist rechtlich nicht vollziehbar und polizeilich nicht vollstreckbar. Die Wahrheitsfrage fällt deshalb nicht in die Kompetenz politischer Instanzen und verliert darum die Relevanz für das Gemeinwesen. Darap ist wohl etwas Richtiges, aber es erfaßt das Problem nicht erschöpfend.

Wie könnte von Toleranz der Vernunft die Rede sein, wenn es dabei auf Wahrheit überhaupt nicht ankäme? Selbstverständlich ist vorausgesetzt, daß der Wahrheit Respekt gezollt wird, daß man im öffentlichen wie im privaten Leben die Wahrheit sagt, daß die Wissenschaft unbehindert die Wahrheit erforscht und daß auch allem Erfragen und Bezeugen von Lebenswahrheit Raum gegeben wird.

Für die Theologie erwächst daraus die Aufgabe, die lautere christliche Glaubenswahrheit gewißheitsbildend so zu vertreten, daß zugleich eine allgemeine Konsensbildung in elementaren Fragen der Lebenswahrheit gefördert wird. Auch das diente dem Geist der Toleranz.

Die Antwort auf die Frage, wo Toleranz ihre Grenze habe, ist so einfach, daß sie fast sophistisch klingt: an der Intoleranz.

Wer Toleranz verneint, kann sie nicht beanspruchen. Wer sie dazu benutzt, um ihre Voraussetzung, Freiheit und Wahrheit, zu mißbrauchen und zu zerstören, kann nicht gedulc^et werden.

Der Autor ist Professor für Systematische Theologie in Zürich.

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