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Freiheit des Menschen

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Die „Freiheit des ganzen Menschen“ ist ein eminentes Problem der Persönlichkeitsentfaltung. Sie wirkt auf Lebensbereiche, die vor allem durch die „bürgerliche“ Gesellschaft für „tabu“ angesehen werden. Sie bezieht sich aber auch auf die Gestaltung jener Lebensbereiche, die nur dem Regulativ des Sozialstaates unterworfen wurden.

Diese früher tabuisierten Lebensbereiche gewinnen eine neue rechtliche Qualität. Sie werden zu rechtlich relevanten Freiheitsräumen und -rechten. Sie stellen faktisch durch die Gewohnheit geschaffene Privilegien in Frage; sie mahnen das volle Ausmaß der garantierten Freiheiten eigentlich erst an. Diese Anmahnung führt zu Systemherausforderungen, die nur mühsam ausgeglichen werden können.

Der Vorgang ist derzeit in voller Entwicklung. Er findet in den westlichen Gesellschaften juristischen Niederschlag. Sei es in der Gesetzgebung, sei es in der Rechtsprechung. Sie sind Marginalien für die Auseinandersetzung um die Tragweite der Freiheit des ganzen Menschen.

Elemente der „ganzen Freiheit“ sind vor allem die Bildungs- und Informationsfreiheit, die sexuelle Freiheit, die familiäre Bindungslosigkeit, die freie Verfügung über Empfängnis und Abtreibung. Es sind „Freiheiten“, die wohl in dem Freiheitsbegriff der klassischen Kataloge „dialektisch“ mitgedacht waren, nun aber, in einem dialektischen Prozeß entdeckt, in Anspruch genommen und angemahnt werden!

Die treibenden Kräfte in diesem

Prozeß der Entdeckung dieser Freiheiten innerhalb der schon garantierten Freiheit sind beispielsweise die folgenden: Unter dem Begriff „Freiheit des Privatlebens“ hatte man im vergangenen Jahrhundert die Freiheit im Hause (natürlich auch das sexuelle Privatleben) verstanden, die Manifestation der sexuellen Intimsphäre wurde durch die sogenannte Pornographiegesetzgebung verboten. Darüber setzt man sich heute weitgehend hinweg: Diese sexuelle Freiheit wurde - nicht zuletzt, um diesbezügliche, überraschend anwachsende Konsumbedürfnisse zu befriedigen und damit vermeintlich demokratische Wählerschichten nicht abzustoßen - zunächst durch eine flexiblere Haltung der Administration und Rechtspflege stillschweigend anerkannt und dann durch die Gesetzgebung kanalisiert.

Als Beispiele für die Anerkennung einer - allerdings nun reglementierten - Freiheit können gelten: Die Freiheit zur geradezu schrankenlosen pornographischen Darstellung wegen der Nichtanwendung der Pornographiegesetze; die Freiheit zur Sexualität durch sexuelle Erziehung in den Schulprogrammen; die Freiheit zum „eigenen Bauch“ durch großzügige Abtreibungsgesetze; die Freiheit von der Wehrpflicht durch die Anerkennung des vom politisch, nicht philosophisch gegründeten Pazifismus getragenen Zivildienstgedankens; die Freiheit von gesellschaftlicher Diskriminierung der unehelich Geborenen (moderne Ehe-und Familiengesetzgebung).

Diese Bereiche der „ganzen Freiheit“ oder der „Freiheit des ganzen Menschen“ wurden in einem relativ knappen Zeitraum zu einem neuen „Status negativus“ des Menschen gemacht, der zwar noch nicht - wie der der klassischen Freiheiten - einen europäischen Standard aufweist, aber doch schon Grundzüge eines solchen erkennen läßt, die durch eine europäische Rechtsprechung verfeinert werden.

Die Erkenntnis der „ganzen Freiheit des Menschen“ muß zum Bewußtsein der Freiheit des Individuums von Sachzwängen, Subsystemen, technischer Bevormundung, vom Zwang zur Verdatung führen. Sachzwänge, Subsysteme, technische Bevormundung, Verdatung sind in der Industriegesellschaft aber so unabwendbar geworden, daß der Mensch sich diesen Zwängen kaum mehr zu entziehen vermag.

Er ist in das System von Bedürfnissen und Bedürfnisbefriedigungen hineingestellt, die mit allen ihren Folgen oft schon das von der Menschenwürde her erträgliche Maß erreicht haben: Der Mensch ist in dem Moment, in dem er der Inflation des Bedürfnisses folgt, dem Instrumentarium der Bedürfnisbefriedigung unterworfen (Vgl. z. B. die aus dem Wohnungsmarkt, den bodenerschließenden Wohnbaugemeinschaften und Bodenbeschaffungsgemeinschaften folgenden Abhängigkeiten); der Mensch ist Zwangsmitglied von Interessenvertretungen, oder er wird faktisch verhalten, Verbänden anzugehören, da sonst seine sozialen und wirtschaftlichen Interessen nicht gehörig vertreten sind.

Solchen Organisationen kann sich der moderne Arbeitnehmer - so wie seinerzeit den Zünften - überhaupt nicnt oder nur unter Schaden entziehen. Der Mensch muß sich, sollen die Bedürfnisse wirksam ermittelt werden, der Preisgabe persönlicher Daten unterwerfen. Die Daten werden vom Staat, von eigens dazu geschaffenen Informationsgesellschaften, von Massenmedien erhoben und zu einem Regelungssystem von bisher nicht bekannten Abhängigkeiten und Bindungen zusammengeschlossen (modernes besonderes Gewaltverhältnis).

Gegen den Mißbrauch solcher faktischen oder rechtlichen Abhängigkeiten hilft, von der kritischen Selbstbesinnung abgesehen, nur das ordnende Gesetz und die Kontrolle oder die - allerdings gleichfalls gesetzlich zu organisierende - Mitwirkung aller Betroffenen an der Ausgestaltung, Anwendung und Kontrolle der vom Verteilungs- und Bedürfnissystem erfaßten Sachgebiete. Das Optimum einer solchen Mitwirkung ist die nach dem Grad der Betroffenheit und Sachkunde abgestufte Mitbestimmung oder Partizipation.

Diese ist in einem Legitimierung der Repräsentation und Gestaltungsinstrument. Damit wird präventive Kontrolle durch jene geschaffen, die vom System unmittelbar betroffen werden.

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