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Fremd in der Heimat

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Hans Weigel entdeckte eine neue niederösterreichische Erzählerin, und der Verlag des Niederösterreichischen Pressehauses veröffentlichte ihr erstes Buch. Wir bringen einen Auszug aus diesem soeben erschienenen Roman „Die Werdung“. Er behandelt das Schicksal eines aus dem Krieg Heimgekehrten.

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Hans Weigel entdeckte eine neue niederösterreichische Erzählerin, und der Verlag des Niederösterreichischen Pressehauses veröffentlichte ihr erstes Buch. Wir bringen einen Auszug aus diesem soeben erschienenen Roman „Die Werdung“. Er behandelt das Schicksal eines aus dem Krieg Heimgekehrten.

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Der Mann saß unten beim Bahndamm und sah, wie der Schnee von lauer Frühlingsluft geschmolzen, ins Erdreich versik- kerte, sich auflöste in Wasser, helles, reines Wasser, als ob er neues Leben geben und altes wegwaschen wolle.

Die letzte Sonne sendete ihr Licht zaghaft in die Ebene und umhüllte sie in ihrer vertrauten Behutsamkeit.

Die Wiese war noch von braunem Herbstgras durchzogen und tat sich erst langsam, zögernd dem Frühling auf.

Der Mann streckte das Bein aus und stützte sich mit beiden Händen auf seine Erde.

Er roch ihren feuchten, warmen Geruch — Zärtlichkeit vergangener Tage. Allmählich mengte sich ihr der herbe und frische Geruch des nahen Wassers bei.

Auch er war vertraut.

Ein Abend, ein ganz gewöhnlicher Abend legte sich aufs Land und deckte es zu für die kommende Nacht.

Es war gut, das Bein auszustrek- ken, sich rücklings ins Gras zu legen, um zu ruhen und stillzuhalten. Wieder den eigenen Geruch atmen zu können, das Wasser, die Wiese und die Fremdheit, die so stark, fast unauslöschlich in einem haftete, abschütteln zu können — welch ein Glück!

Es war alles nicht wahr, dachte der Mann. Ich habe es ja nur erträumt, erfunden in meinen Gedanken zu Mittag, hier am Bahndamm, wenn der Zug vorüberfuhr und mich zu Boden drängte.

Ich bin immer hier geblieben.

In Wahrheit liege ich hier auf dem Grase, und Mutter wird mit mir schimpfen, weil ich auf der feuchten Erde lag.

Wie lange war man fortgewesen? Wie lange? Was hatte ich denn gemacht, getan?

Wenn ich meine Augen schließe, vernehme ich deutlich die Sirene, diese schrille, ekelige Sirene, und das Summen sommerträger Bienen.

Der Mann richtete sich ein wenig auf, zog bedächtig das Bein an, und stemmte sich mit den Armen — so gut es ging — vom Boden weg.

Er humpelte bis zur Straße hin, die weit bequemer und angenehmer zu gehen war als der Feldweg. Er würde jetzt auch niemanden mehr treffen.

Mit den Krücken bewegte er sich schleppend vorwärts.

Er kämpfte sich auf der vom Schnee aufgeweichten Straße in Richtung Stadt.

Die Straße war glitschig und trügerisch. Sie bot kaum Halt für die Holzpfähle, die sich so quälend auf ihr vorwärts tasteten.

Immer nur ein kleines Stückchen weiter.

Links und rechts seines Weges verschwanden langsam die niedrigen, in die Nacht hingeduckten Häuser, als ob sie einander auf- lösen wollten.

Die Gesichter, auf die er traf, erwiderten höflich seinen Gruß ohne erkannt zu haben.

Es waren andere Gesichter, die er suchte.

Die Frauen hatten denselben schleppenden Schritt, ihre Augen waren beinahe verdeckt von Wolltüchern, und aus dem zärtlichen Mund war ein wissender geworden.

Er kannte ihre Gestalten aus Romanen, Dramen Und Jugendgedichten.

Immer dieselben roten, aufgequollenen Hände, dieselben Kopftücher aus Flanell und derselbe leere Blick.

Er hätte sich an ihrem Lächeln erfreut.

Das Büro war groß, hell und unpraktisch.

Es bestand aus einem kleinen Saal mit hohen Fenstern, schroffen Pulten und einem langgestreckten Gang.

.Vorkriegscharakter“, dachte der Vorstand, als er den langen Gang mit leicht hinkendem Schritt durchmaß.

Einige Angestellte kannte er schon von früher, andere waren neu und lächelnd.

Er wandte sich seinem neuen Schreibtisch zu, strich leicht über die frisch gereinigte Tischplatte, bevor er sich etwas umständlich niederließ.

Man konnte gut das Bein unter der Tischplatte ausstrecken.

Die Bedienerin kam, lachte ihn freundlich an und fragte, ob er noch Kaffee wünsche, obwohl sie eigentlich schon im Weggehen sei, aber heute, da es sein erster Tag hier sei, würde sie gern noch ein wenig länger bleiben um zu sehen, ob er noch eine Schale Kaffee trinken wolle.

„Ja bitte, wenn Sie so lieb wären!“ sagte er.

„Ja. Ich bin so lieb, wissen Sie, der alte Herr Vorstand hat auch immer Kaffee getrunken, also in. der Frühe — meine ich. Also, er hat dreimal am Tag getrunken. Morgens und abends, da habe ich ihm einen gemacht, und zu Mittag hat er auch einen getrunken, aber den hat ihm dann die andere gemacht. Die hat ihn nämlich gemacht, weil ich da nicht da bin. Aber Sie müssen es mir nur sagen, dann sage ich ihr, sie soll Ihnen auch zu Mittag einen machen, wenn Sie wollen. Ich gehe nämlich dann nach Hause und komme erst gegen vier Uhr. Zu Mittag kommen nämlich mein Mann und meine Tochter nach Hause, und da richte ich ihnen das Essen, das haben wir uns so ausgemacht, der alte Herr Vorstand und ich.

Wissen Sie, ich bin vielleicht nicht ganz so pünktlich am Nachmittag, aber dafür bleibe ich etwas länger hier, wenn noch etwas zu tun sein sollte.“

„Ja, ist schon recht. Sie müssen mir nur sagen, wie Sie es haben wollen, und ich werde es dann fest- halten. Ich werde Ihre Gewohnheiten nicht verändern!“ setzte der Vorstand hinzu.

„Festhalten? Was wollen Sie denn hier festhalten?“

„Nun, Ihre Arbeitszeit, die muß ich doch aufschreiben, oder nicht?“

„Aber ich bitt Sie! Das hat der alte Herr Vorstand nie aufgeschrieben!“

Nachdem sie gegangen war, zog er die Mappe über die Dienststunden des Reinigungspersonals hervor und suchte nach einer diesbezüglichen Eintragung.

Er fand keine.

Er schloß die Mappe, legte sie beiseite und blickte zu den hohen Fenstern empor. Da sie aus Milchglas waren, gab nur die Oberlichte ein Stück Himmel frei.

Ein Stück grauer Eintönigkeit.

Vom Bahnhof kamen deutlich die einzelnen Zugsignale und das verschwommene Geräusch des Lautsprechers her.

Er stand auf, ging in einen kleinen Raum, der, vom Kassenraum getrennt, für die Angestellten reserviert war, und sprach einige Worte mit seinen neuen Mitarbeitern.

Manche versuchten mit ihren Mienen ein Zuhorchen auszudrücken, andere blickten starr vor sich hin und warteten auf das Ende.

,Wie beim Militär“, schoß es ihm durch den Kopf, und er bemühte sich, sich möglichst kurz zu fassen.

Anschließend tranken sie eine Schale Kaffee, begannen ein Plaudern und ihre gewohnte Arbeit. Er wandte sich wieder seinem neuen Schreibtisch zu, räumte die unbeschriebenen Unterlagen in die dafür vorgesehenen Fächer und Ablagen und wartete auf den ersten Kunden.

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