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Freud — für heute
Zum Auftakt des Gedächtnisses von Sigmund Freuds fünfzigsten Todestag im September 1989 fand, veranstaltet vom Forum St. Stephan, vom 20. bis 22. Oktober in Wien ein Symposium statt. Es sollte sich mit der Wirkung psychoanalytischer Theorien in einzelnen Wissenschaftssparten und Gesellschaftsbereichen auseinandersetzen. International anerkannte Forscher aus West und Ost diskutierten miteinander. Dabei wurden zwei Schwerpunkte deutlich: einer im theologisch-philosophischen und erkenntnistheoretischen Bereich, der zweite Schwerpunkt betraf die Wirkung der Psychoanalyse auf gesellschaftliche Bewußtseinsprozesse, auf die Psychologie der Geschlechter, auf politische Entscheidungen. Die Ausführungen über Tiefenpsychologie und Hermeneutik bildeten einen abschließenden und zusammenfassenden Höhepunkt der Veranstaltung, sie wurden durch einen Ausblick auf die morgen notwendigen psychologischen Dimensionen ergänzt.
Was waren die wichtigsten Aussagen und Konklusionen dieses interdisziplinären Meetings? Mit seiner metapsychologischen Kritik der Philosophie habe Freud vielleicht seine philosophischen Neigungen, die er von Anfang an gespürt habe, gebändigt, jedoch dadurch dem philosophischen Denkansatz dieses Jahrhunderts eine neue Aktualität verliehen (Augustinus Wucherer-Hulden-feld, Wien).
Das Paradigma der interpreta-tiven funktionalen Analyse hebe den erkenntnistheoretischen Aspekt der Freud'schen Psychoanalyse hervor (Peter Lanz, Bielefeld). Fraglich bleibt bei diesem Ansatz, ob nicht der affektiv-emotionale Anteil, der schließlich einen Kernpunkt psychoanalytischen Denkens ausmacht, ein wenig unterschätzt wird.
Den Lacan'schen Gedanken, Sprache und Unbewußtes gleichzusetzen, erörterte Natalja S. Av-tonomova: Denken wir nicht in Bildern und sind diese nicht im Vorsprachlichen, bisweilen im Vorgestaltlichen anzusiedeln?
Freuds Religionskritik erörterte Wucherer-Huldenfeld auf folgenden Argumentationsebenen: Gleichsetzung von metaphysischen und metapsychologischen AnHegen, Verhältnis von Religion und Metaphysik, Religion innerhalb der Freud'schen positivistischen Weltanschauung und nicht zuletzt Freuds Anliegen als Wahrheitssucher. Heinz Sche-pank, Heidelberg/Mannheim, leitete die Wendung ins Pragmatisch-Therapeutische über. Er verwies zunächst darauf, daß Bewußtsein sich verschieden manifestieren könne, als Fähigkeit zu Daueraufmerksamkeit, Verantwortlichkeit, Klassenbewußtsein, kollektivem Unbewußten et cetera und ging dann dem Freud'schen Paradigma in der Krankenversorgung, Lehre und Forschung nach: Anders als in Österreich sei in der Bundesrepublik Deutschland heute eine flächendeckende Versorgung mit Psychotherapeuten erzielt. Allerdings sei der Anteil psychogen stärker beeinträchtigter Menschen in der; Durchschnittsbevölkerung mit 26 Prozent noch beunruhigend hoch.
Hertha Richter-Appelt, Hamburg-Eppendorf, brachte zunächst eine Korrektur verschiedener theoretischer Blickpunkte Freuds über die weibliche Sexualität vor. Als Kind seiner Zeit habe er aber trotzdem Impulse gegeben, die heute wissenschaftlichen Niederschlag in endokrinologi-schen und embryologischen Befunden und Theorien gefunden hätten. Wettkampf und Machtverhältnisse, die ihren Ausdruck in sexuellen Einstellungen und Störungen finden können, wurden ihrer verschiedenen Einkleidungen entblößt und entlarvt.
Harald Leupold-Löwenthal, Wien, stellte wissenschaftlich äußerst fundiert der inneren Realität des Menschen und der Autonomie des einzelnen das Sinnsystem der Gesellschaft und die kollektive Autonomie gegenüber. Er betonte die antiutopistische Einstellung Freuds, die sich in der von ihm offen gehaltenen Polarisierung von Tiefenpsychologie und Politik manifestiert; Leupold warnte erneut vor einer Vulgarisierung psychoanalytischer Erkenntnisse.
Warnen wollte auch Peter R. Hofstätter, Hamburg, vor Methoden, die unkritisch oder zu einem eher durchsichtigen Selbstzweck angewendet würden und damit einen Kreislauf zwischen politischen Entscheidungen und solchen psychologischen Methoden in Gang brächten.
Hans Keilson, Bussum/Nieder-lande, selbst Autor, ließ an der Polarität von Tiefe und Oberfläche, an der Abstufung von Deutung-Bedeutung und Deutungskunst, teilnehmen, Er machte klar, daß Psychoanalyse als Wissenschaft von den unbewußten Vorgängen ihren Ausgang jeweils an den Oberflächenphänomenen nehmen müsse — in bewußter Aufhebung der Vorurteile.
Abschließend wurden von mir Forderungen nach einem vielgestaltigen Therapieangebot entsprechend der pluralistischen Gesellschaft, nach einem rascheren Aufdecken epochaltypischer Entwicklungen und Tabus, nach dem interdisziplinären, schulenüberwölbenden Gespräch der einzelnen Therapeuten gestellt, mit dem Ziel, einen Konsens über die Dringlichkeit psychohygieni-scher und psychotherapeutischer Schritte in der Gesellschaft zu finden. Das gestörte Verhältnis von Psychologie zur Politik müsse überdacht und korrigiert werden, die Suche nach einer adäquaten psychologischen Methode zur Erfassung intrapsychischer Vorgänge sei voranzutreiben. Mit Mut, Kreativität und Ausdauer sollten immer wieder neue Gleichnisse gefunden werden.
Die knapp fünfzig Diskutanten und Zuhörer dieser hochrangig besetzten Veranstaltung nahmen sich in der Freud-Stadt Wien eher bescheiden aus.
Der Autor ist Professor für Psychiatrie an der Universitätsklinik in Wien.
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