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Freuds Wiener Erbe

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Während in der Wiener Hofburg die Mitglieder der exklusiven Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft tagten, wurde im Unterrichtsministerium nach langwierigem Gerangel die schwierige Frage der Hoff-Nachfolge endlich entschieden. Während die Teilung der Klinik längst beschlossen war und auch die Bestellung des Grazer Dozenten Herbert Reisner für den Bereich der klinischen Neurologie bereits feststand, war die Hoff-Nachfolge im eigentlichen Fachbereich des verstorbenen Wiener Neurologie-Psychiatrie-Diktators noch unbekannt. Kurz vor dem Wochenende wurde das Ernennungsdekret unterschrieben. Chef der Universitätsklinik für Psychiatrie wird Dozent Peter Berner.

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Während in der Wiener Hofburg die Mitglieder der exklusiven Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft tagten, wurde im Unterrichtsministerium nach langwierigem Gerangel die schwierige Frage der Hoff-Nachfolge endlich entschieden. Während die Teilung der Klinik längst beschlossen war und auch die Bestellung des Grazer Dozenten Herbert Reisner für den Bereich der klinischen Neurologie bereits feststand, war die Hoff-Nachfolge im eigentlichen Fachbereich des verstorbenen Wiener Neurologie-Psychiatrie-Diktators noch unbekannt. Kurz vor dem Wochenende wurde das Ernennungsdekret unterschrieben. Chef der Universitätsklinik für Psychiatrie wird Dozent Peter Berner.

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Damit wäre nach einem zeitweise qualvollen Interregnum wenigstens theoretisch wieder die Möglichkeit gegeben, blockierte oder nicht einmal begonnene Entwicklungen in Fluß zu bringen. Dies gilt auch für den organisatorisch streng von der Universitätsklinik getrennten, in der Praxis aber mit ihr durch vielfältige Beziehungen verwobenen Bereich des Psychiatrischen Krankenhauses der Stadt Wien, im Volksmund kurz „Steinhof" genannt.

Während die klinische Neurologie in Wien durch ihr Schattendasein unter dem mit weicher, aber kraftvoller Faust sein Imperium verteįfli-genden HofE nun fast von einer Stunde Null ausgehen kann, was eine enorme Chance bedeutet, dürfte die Psychiatrische Universitätsklinik ihre während des Interregnums aufgeweichten Führungsstrukturen demokratisieren. Dozent Peter Berner wird sich, so ist anzunehmen, nicht als allmächtiger Boß aufspielen, sondern mehr die Funktion eines primus inter pares ausfüllen.

Für Professor Hans Strotzka werden verstärkte Wirkungsmöglichkei-

ten erhofft, was nicht nur einen Einbruch sozialpsychiatrischer Gedankengänge in die konservative Wiener Psychiatrie bedeuten würde, sondern auch einen Terraingewinn für die Psychoanalyse.

In der Praxis allerdings wurden alle Streitigkeiten zwischen den theoretischen Schulen durch den Siegeszug der Psychopharmaka überschattet, die im Lauf von eineinhalb Jahrzehnten den Alltag der psychiatrischen Kliniken vollständig verändert haben. Während es diese Medikamentengruppe ermöglichte, zahlreiche Menschen, die sonst für immer in den Sog des klinischen Räderwerkes geraten wären, in ihrer gewohnten Umgebung zu belassen, haben sie durch ein allzu erfolgreiches Kurieren an Symptomen das Interesse für verbesserte Möglichkeiten, an der Wurzel des Übels anzusetzen, etwas ermatten lassen.

Starken Kräften in der Wiener Psychiatrie kam das zustatten, denn die veränderte pharmakologische Situation machte es leichter, die geistige Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse und ihre Eingemeindung in die therapeutische Landschaft auf den Sankt-Nimmerleins-Tag hinauszuschieben. Ein Wiener Psychiater: „Freud genießt in Wien so eine Art von geistiger Ehrenbürgerschaft, aber volle Bürgerrechte will man ihm um keinen Breis zuerkennen."

Verschiedene Relikte der Schlangengruben-Psychiatrie, die sich erstaunlich lange gehalten hatten und noch Anfang der sechziger Jahre gewisse Rüciczugspositionen hielten, wurden in den letzten Jahren auch im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien abgebaut. Aber auch hier mündet die Entwicklung in eine sogenannte „Ruhigstellungs-Psychia-trie", die vor allem an der Klinik HofE Triumphe feierte. Dort konnte ein tobender Patient allen Ernstes die Karriere des ihn behandelnden Arztes gefährden, Ruhigstellung war das Alpha und das Omega, auch um den Preis von Dosen einst konventioneller Beruhigungsmittel, später Psychopharmaka, die Internisten erblassen ließen. Allerdings hat der Dosierurigskonflikt zwischen Psychiatern und Internisten eine lange Tradition.

Neue Einbrüche vor allem aus sozialpsychiatrischer Richtung, eine neue psychiatrische Therapie, die stärker als heute üblich das soziale Umfeld des Patienten in ihre Überlegungen einbezieht, müßte freilich auch in die organisatorische Basis eingreifen. Die Kontakte zwischen Klinik und Familie des Patienten sind heute rudimentär, von der Klinik geht die Kontaktaufnahme viel zu selten aus, und über eine psychiatrische Aufklärung der Bevölkerung machte man sich bisher kaum mehr als einige sehr allgemeine Gedanken.

Wie wichtig sie wäre, erhellt allein aus der Tatsache, daß heute eines der üblichen Routinebrieflein vom Steinhof, geziert mit deutlicher Angabe des Absenders, zur Rückkehr eines geheilt oder gebessert entlassenen Patienten führen kann und immer wieder führt. Vor allem eines alleinstehenden Patienten, denn erst durch den Brief, via Briefträger, erfährt die gesamte Nachbarschaft, daß der Kranke „auf dem Steinhof" war

Auch die Besetzung mit Ärzten ist günstiger als in der Bundesrepublik, sie liegt mit einem Arzt auf 67 Patienten (Iststand) zwischen WHO-Empfehlung (ein Arzt auf 30 Kranke)

und bundesdeutscher Realität (ein Arzt auf 100 Kranke).

Der Pflegermangel allerdings ist hierzulande ebenso notorisch: Ein Pfleger kommt auf 4,6 Patienten. In der Bimdesrepublik ein Pfleger auf 4,85 Patienten. Oder 655 Pfleger (Sollstand 709) für eine 2650-Betten-Kli-nik, die laut letzter detaillierter Meldung mit 3038 Kranken, zum Großteil in therapiewidrigen riesigen Sälen, belegt war.

Ein erheblicher Prozentsatz der Insassen sind allerdings „Pflegefälle" und damit von der Gesellschaft der Gesunden, die von einer gesunden Gesellschaft weiter denn je entfernt ist, gründlicher ausgeschlossen und abgeschrieben, als die Insassen der Gefängnisse. Auch der Prozentsatz der „Lebenslänglichen" ist im psychiatrischen Krankenhaus sehr viel höher. Die Gründe dafür sind fast immer stärker sozialer als medizinischer Natur.

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