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Freund, nicht guter Vater

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Der technische Fortschritt hat der Medizin enorme neue Möglichkeiten eröffnet. Er stellt die Ärzte aber auch vor ganz neue Entscheidungen. Fragen der Ethik werden daher heute von Medizinern neu gestellt.

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Der technische Fortschritt hat der Medizin enorme neue Möglichkeiten eröffnet. Er stellt die Ärzte aber auch vor ganz neue Entscheidungen. Fragen der Ethik werden daher heute von Medizinern neu gestellt.

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Ein Mensch braucht Hilfe. Ein anderer leistet sie. Das ist nicht nur eine allgemeinmenschliche Grundsituation, in der neben den praktischen Fähigkeiten des Helfers auch seine Wertvorstellungen zum Tragen kommen. Das ist im Prinzip auch das, was in Spitälern und Arztordinationen tagtäglich vor sich geht. Denn die medizinische Hilfeleistung kann nicht nur vom jeweiligen Wissensstand und vom Fachkönnen des Arztes bestimmt sein. Immer spielen auch ethische Entscheidungen eine Rolle.

Diese betreffen in unseren Tagen zum Teil völlig neue Problemstellungen. Zwei wichtige Gründe dafür nennt der Präsident der an der Universität Göttingen beheimateten deutschen „Akademie für Ethik in der Medizin", Professor Eduard Seidler. Zum einen sind aufgrund der rasanten Entwicklung der Medizin völlig neue Fragen zu lösen. Etwa die - um nur ein Beispiel unter vielen herauszugreifen - ob bei einem voraussichtlich unheilbar Kranken alle heute verfügbaren Maßnahmen zur Lebensverlängerung tatsächlich eingesetzt werden sollen. Zum zweiten paßt das alte Bild Arzt als guter Vater, der für seinen Patienten entscheidet, weil er am besten weiß, was diesem gut tut, nicht mehr. Ein gewandeltes Menschenbild und neue Bestimmungen verlangen von ihm, daß er die Vaterrolle ablegt und gegenüber dem als autonome Persönlichkeit gesehenen Patienten jene eines guten Freundes übernimmt. Das bedeutet unter anderem, daß der Arzt den Kranken über sein Behandlungskonzept informiert und ihn an der Entscheidung beteiligt.

Damit wird die Verantwortung des Mediziners aber keineswegs kleiner. Im Gegenteil, es sind heute zunehmend mehr und schwierigere Entscheidungen, die er aufgrund seines Fachwissens, des geltenden Rechts und der von der Gesellschaft beziehungsweise von ihm selbst anerkannten Wertsysteme lösen muß. Wie schwierig, das zeigte etwa der spektakuläre Fall des „Erlangener Baby's". Man entschied sich dafür, dem Kind auch nach dem Tod seiner Muter eine Lebenschance zu geben, obwohl es auch zahlreiche medizinische und nichtmedizinische, vor allem auch ethisch begründete Gegenargumente gab. Um diese interdisziplinär zu diskutieren, hat die Akademie für Ethik in der Medizin am Thema interessierte Ärzte, Biologen, Philosophen, Psychologen, Moraltheologen und Juristen für Mitte Dezember nach Mainz eingeladen.

Bei einer Akademietagung in Salzburg (26. und 27. IL), der ersten in Österreich, ging es um vier Problemfelder mit besonderem „Ethik-Bedarf' (Seidler). Wobei mit diesem seltsamen Wort schlicht und einfach ger meint ist, daß die Ärzte - zumeist unter dem Druck stehend, rasch handeln zu müssen - hier selbst Unterstützung brauchen. Sie spüren, daß sie mit ihrem medizinischen Fachwissen allein nicht weiter kommen. Etwa wenn es darum geht, einem Patienten mitzuteilen, daß er an einer schweren Krankheit leidet und ihm nur eine risikoreiche Behandlung helfen kann.

Der komplexe Bereich der Patientenaufklärung wurde in den zweitägigen Salzburger Gesprächen ebenso behandelt wie der schon erwähnte Behandlungsabbruch. Jeweils waren ein Mediziner, ein Jurist und ein Ethiker eingeladen, ihre Standpunkte zu vertreten. In der gleichen Art wurden auch die Bereiche der Psychiatrie und derPerinatalmedizin diskutiert. Letztere beschäftigt sich mit dem Zeitraum rund um die Geburt. Im Zehtrum steht keineswegs nur Spektakuläres wie der Erlanger Fall. In erster Linie geht es um Fragestellungen, die heute bereits zum Alltag der in diesem Feld tätigen Ärzte gehören.Wie etwa die, ab wann der Versuch, ein wesentlich zu früh geborenes Kind über die Runden zu bringen, ethisch vertretbar ist. Viele neue ethische Fragestellungen gibt es auch in der Psychiatrie. Eine häufig vorkommende Grundproblematik ist hier, inwieweit ein Patient, dessen Persönlichkeit durch seine seelische Krankheit vorübergehend verändert ist, zu seinem Wohl einer Behandlung zugeführt werden darf, obwohl er sich im Moment dagegen wehrt.

Das Ziel, das die Mitglieder der Ethik-Akademie mit ihren Veranstaltungen und Veröffentlichungen anstreben, ist nun keinesfalls, verbindliche Regeln für ethisches Handeln in der Medizin aufzustellen. Vielmehr will man die Angehörigen der Medizinberufe für die Problematik sensibilisieren und sie mit Informationen versorgen. Eine eigene Dokumentationsstelle wird derzeit in Göttingen aufgebaut. Den Zugriff darauf werden Interessierte aus dem ganzen deutschsprachigen Raum, also auch aus Österreich, haben.

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