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Frieden durch Verträge?

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Der Krieg — als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln — hat in unserem Lebensbereich seinen Sinn verloren. Moderne Armeen sind seit der Entwicklung der Kernwaffensysteme globaler Reichweite zu Ausrottungsmaschinen geworden. Am Ende ihrer Aktionen steht nicht mehr der Sieg, sondern die totale Zerstörung. Henry Kissinger, in dem viele den Spiritus rector der strategischen Konzeption Amerikas sehen, sprach bereits vor Jahren vom „Sieg, der seinen historischen Sinn verloren hat“. Wenn es in den kommenden zwölf Monaten nach dem erklärten Willen Moskaus und Washingtons gehen soll, könnte dieser atomare Scheinfrieden durch Verträge abgesichert werden. Ja mehr noch. Über ein Einfrieren der Potentiale hinaus will man einen Rüstungs- und Truppenabbau ins Auge fassen. Wer wollte die beiden Supermächte daran hindern, den „Goodwill“ in vertragsmäßige Abmachungen umzumünzen? Peking? Da schon eher die Eigenschwere — und -Gesetzlichkeit — der Rüstungspotentiale.

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Der Krieg — als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln — hat in unserem Lebensbereich seinen Sinn verloren. Moderne Armeen sind seit der Entwicklung der Kernwaffensysteme globaler Reichweite zu Ausrottungsmaschinen geworden. Am Ende ihrer Aktionen steht nicht mehr der Sieg, sondern die totale Zerstörung. Henry Kissinger, in dem viele den Spiritus rector der strategischen Konzeption Amerikas sehen, sprach bereits vor Jahren vom „Sieg, der seinen historischen Sinn verloren hat“. Wenn es in den kommenden zwölf Monaten nach dem erklärten Willen Moskaus und Washingtons gehen soll, könnte dieser atomare Scheinfrieden durch Verträge abgesichert werden. Ja mehr noch. Über ein Einfrieren der Potentiale hinaus will man einen Rüstungs- und Truppenabbau ins Auge fassen. Wer wollte die beiden Supermächte daran hindern, den „Goodwill“ in vertragsmäßige Abmachungen umzumünzen? Peking? Da schon eher die Eigenschwere — und -Gesetzlichkeit — der Rüstungspotentiale.

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Bis in die Gegenwart vollzogen sich Wechsel auf der politischen Bühne mit der donnernden Theatra-lik von Naturereignissen. Der Waffengang — der Krieg — war der formende Faktor der Szene. Gleich tektonischen Verwerfungen gestaltete er die politische Landschaft, zerstörte alte Ordnungen, um aus dem Chaos neue zu gestalten. Demgegenüber scheint es eine Charakteristik unserer Tage zu sein, daß sich nicht minder bedeutungsvolle Veränderungen im Bild der Erde mit ungewohnter Lautlosigkeit einstellen. Oder liegt der Grund darin, daß wir durch ein Überangebot an Aktualität den Blick und das Wissen um die großen Zusammenhänge verloren haben?

Knapp ein Viertel dieses Jahrhunderts schien die Menschheit mehr oder minder freiwillig oder unfreiwillig in zwei Lager gespalten. Angeführt von der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten, die beide für sich in Anspruch nahmen, die bestmögliche Weltordnung zu vertreten. Die völlige Unvereinbarkeit der gegenseitigen Vorstellungen — sieht man von der kurzlebigen, oft mißinterpretierten Ära der Koexistenz ab — sicherte man durch ein gigantisches Waffenpotential ab.

Mit dem Auftritt Pekings vor dem Weltforum der Vereinten Nationen wurde diese „heile Welt“ der Hegemonie der beiden atomaren Supermächte aus den Angeln gehoben. Viel mehr noch. Selbst das Dreieck Moskau — Washington — Peking, das sich abzeichnet, scheint mehr Labilität als Stabilität zu besitzen. Für seine Politik mußte sich Präsident Nixon — vor den Reisen nach Peking und Moskau — diesen Wandel auf der weltpolitischen Szenerie bereits eingestehen. Doch inwieweit bestimmt die Stärkung der Positionen Europas und Japans die Entscheidungen im Kreml? Bei der Beurteilung der sowjetischen Politik steht nach wie vor die asiatische Hypothek Moskaus an erster Stelle vieler Überlegungen. Zweifelsohne haben die Russen seit dem Grenzkonflikt am Ussuri ihre Präsenz im Fernen Osten weiter verstärkt. Nach neuesten Berichten wird die Zahl der sowjetischen Divisionen ostwärts des Ural auf 57 geschätzt. Davon allein 49 entlang der über 7000 km langen gemeinsamen Grenze mit China.

Aus dieser Tatsache jedoch voreilig auf ein gleichlaufendes Absinken der östlichen Einsatzstärken in Europa zu schließen, wäre leichtfertig. Vielmehr ist in den Truppen des Warschauer Paktes seit dem tschechischen Abenteuer des Jahres 1968 eine vermehrte Integration auf allen Führungsebenen zu registrieren sowie eine zunehmende Standardisierung in der Ausrüstung, und damit eine Rationalisierung im logistischen, heißt nachschubmäßigen Bereich festzuhalten. Zudem trat in den letzten Jahren eine weitere Steigerung der Beweglichkeit, der Feuerkraft und der amphibischen Möglichkeiten der Verbände ein.

Das Signal von Tiflis, Breschnjews Lockruf nach einem beiderseitigen Truppenabbau, hat dementsprechend bisher unterschiedliche Interpretationen erfahren. Viele sehen in dem weltweiten Uberengagement Moskaus eine Bürde, die es, angesichts vermehrter Konsumbedurfnisse seiner Bevölkerung, nicht mehr zu tragen vermag. In dem Wunsch nach Entlastung, einer Entlastung ohne Preisgabe von Terrain, vermuten viele die bestimmende Komponente der sich dem Westen öffnenden Politik Breschnjews.

Diesem immer häufiger deklarierten Interesse Moskaus an Verhandlungen auf der Grundlage des Status quo steht man im Westen aus erklärlichen Gründen überaus aufgeschlossen gegenüber. Auch hier wächst evident das Mißverhältnis zwischen den wachsenden Verteidigungslasten und den budgetä-ren Möglichkeiten der konsumorientierten westlichen Demokratien. Die vielfältige Asymmetrie in den strategischen und geopolitischen Ausgangspositionen der beiden Blöcke im Raum zwischen den Alpen und den Karpaten — als Kernzone dieser Potentialverdünnung — stempelt diese Materie jedoch zu einem der schwierigsten Verhandlungsthemen. Anders als in den Gesprächen um eine Begrenzung der strategischen Rüstung bleibt bei Verhandlungen um einen ausgewogenen Truppenabbau in Europa die Exklusivität der Supermächte nicht mehr gewahrt. Aber nicht nur die Vergrößerung der Konferenzrunde beschert Schwierigkeiten.

Freilich darf die erdrückende Breite des Spektrums militärischer Analysemöglichkeiten nicht den Blick davor verschließen, daß die Frage eines Truppenabbaus in Europa in erster Linie ein politisches und kein militärisches Problem ist. Allen Kassandrarufen zum Trotz geht man in der westlichen Verteidigungsorganisation bis jetzt überaus sentimentfrei an diesen Fragenkomplex heran. Im vergangenen Dezember konnte man in Brüssel insofern eine erste Übereinstimmung erzielen, als man erkannte, daß nur die Potenz eines intakten Bündnisses Chancen auf einen „ausgewogenen“ Verhandlungsverlauf gibt.

Trotz einer möglichen Tendenz, die Bipolarität der weltpolitischen Entscheidungssuche durch eine poly-zentrische Ära abzulösen, bleibt vorerst auch für das Jahr 1972 als bestimmendes Moment das grobe Mißverhältnis zwischen dem Potential der beiden nuklearen Supermächte und dem Rest der Welt bestehen. Daran kann auch der 13. chinesische Atomtest wenig ändern. Noch weniger die Meldung, daß das nukleare Trägerpotential der Volksrepublik auf 24 Mittelstreckenraketen angewachsen sein soll. Stellt man dem die Zahlen der beiden Giganten gegenüber, muß man zugeben, daß noch auf lange Zeit das atomare Patt zwischen Washington und Moskau die Erde regieren wird. Zieht man jedoch die jüngst veröffentlichten Zahlen des Londoner Instituts für Strategische Studien zu Rate, fragt man sich unwillkürlich, ob diese Balance nicht in absehbarer Zeit gefährdet ist.

Erfolg oder Mißerfolg für SALT?

In den nun schon in die sechste Verhandlungsrunde gehenden Gesprächen um eine Begrenzung der Strategischen Rüstung haben Amerikaner und Russen bereits zweimal ihre Positionen und Standpunkte umgekehrt. Was auf den ersten Blick als diplomatisches Manöver erscheinen mag, erfährt aus dem jeweiligen rüstungstechnischen Entwicklungsstand der beiden Mächte eine logische Begründung. Als die Sowjetunion ihr Einverständnis zu diesen Gesprächen gab, war man sich in Washington des Vorsprungs in den Offensivwaffen relativ sicher. Den Bau eines Raketenabwehrsystems begann man hingegen-erst ins Auge zu fassen. Aus Ersparungsgründen drängte man daher anfänglich aui eine Begrenzung der Defensivsysteme. Die Russen hatten ihrerseits den Raketengürtel um Moskau bereits begonnen und versuchten nun den Vorsprung der Amerikaner ir den Trägersystemen zu verkleinern Die russische Verhandlungsdelegation forderte bei Beginn der Gespräche daher ein parallellaufendes Einfrieren der Potentiale. Inzwischen hat sich die Haltung des Kremls gewandelt. Der Raketengürtel um Moskau ist angeblich mit 64 Gallosch-Abwehrraketen fertiggestelll und die Russen drängen die Amerikaner nun gerade in dieser Frage zu einer Entscheidung. Das Dilemma der USA zeichnet sich immer mehr ab. Einerseits ist dei Aufbau eines Raketenschutzsystems um die amerikanische Hauptstad! noch nicht abgeschlossen. Anderseits bedeutet der von den Sowjets geforderte Tausch: Schutz dei Hauptstadt oder der Raketenstellungen in Nord-Dakota und Montana nicht nur die mögliche Aufgabe vor bedeutenden Investitionen, noch mehr des Schutzes der Gegen-schlagswaffe — der verbunkerten Minutemanraketen.

Das würde allerdings das ungeschriebene Gesetz der nuklearer Abschreckung außer Kraft setzen nachdem derjenige, der als erstei schießt, als zweiter stirbt.

Die Vereinigten Staaten verfüger ohne Zweifel derzeit noch über eine ausreichende „Second-strike“-Kapa-zität, allerdings mit folgender Einschränkung. Die Wirksamkeit eines Zweitschlages ist nicht nur abhängig von der relativen Unverwundbarkeit der Gegenschlagsraketen, also von einem sicheren Raketenabwehrsystem, sondern auch in Relation zu den für die Vergeltung vorgesehenen Abschreckungszielen zu sehen.

Während in den USA auf die zehn wichtigsten Städte ein Viertel der Bevölkerung und ein Drittel der Industrie entfallen, so sind es vergleichsweise in der Sowjetunion nur acht Prozent der Bevölkerung und ein Viertel der Industrie.

Die unterschiedliche Verwundbarkeit beider Staaten ist aus diesem Beispiel abzulesen. Mit der These, daß die sowjetischen Nuklearstrategen den Faktor der ungeheuren Weite ihres Landes an vorrangiger Stelle in ihre Überlegungen einbeziehen, versuchen viele westliche Experten den weiteren Produktionsboom von russischen Interkontinentalraketen zu erklären. Während die Zahl amerikanischer ICBM's unverändert bei 1054 hält, nähert sich die russische Fertigungsziffer der Zahl 1600. Die größte Bedeutung kommt hiebei der enormen SS-9 zu (Sprengkraft zirka 25 Megatonnen). Fachleute schätzen, daß es den Sowjets bis 1975 gelingen könnte, bei einer weiteren Zielverbesserung der Mehrfachsprengköpfe, mit zirka 400 SS-9 das gesamte amerikanische Abschreckungsarsenal am Boden auszuschalten. Daher war es auch eine der wesentlichsten Absichten der Vereinigten Staaten in der Wiener Gesprächsrunde, die Beschränkung auf 300 Raketen dieses Typs durchzusetzen. Nach den bisher bekanntgewordenen Informationen haben sich aber die Sowjets bisher geweigert, auf diesen Punkt einzugehen. Auch sollen sie Absprachen abgelehnt haben, die sich auf den Bereich der Trägerwaffen erstrek-ken, die von Unterseebooten abgeschossen werden. Dafür glauben Eingeweihte ebenfalls den Grund zu wissen. Den Sowjets gelang nach diesen Angaben die Weiterentwicklung ihrer seegestützten Raketen und sie erzielen damit nun bereits eine größere Reichweite als die Waffen der amerikanischen U-Boot-Waffe. Die Russen wollen offenbar die Umrüstung vollziehen, bevor sie sich zu einer Rüstungsbegrerizun? unter dem Meeresspiegel bereiterklären.

Die Positionen am Beginn des Jahres 1972 liegen klar vor uns. Beide Seiten stehen unter einem gewissen Zwang, ihre Aufwendungen auf dem Rüstungssektor zu beschränken Während sich aber Präsident Nixon 1972 einer demokratischen Willensund Mehrheitsentscheidung stellen muß — und daher bestrebt sein wird, Erfolge in dieser Frage in seine Wahlkampfscheune zu fahren — verhandeln seine Partner mil einer doppelten Rückversicherung Einerseits dem Umstand, daß wie stets in der Nachkriegspolitik die Zeit für sie arbeitet, anderseits der Möglichkeit, die Antennen der Friedens- und Entspannungsfühler ungleich einfacher wieder in die entgegengesetzte Richtung drehen zu können — ohne deshalb vom Ruder der Macht weggedrängt zu werden.

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