6816723-1973_13_09.jpg
Digital In Arbeit

Fristenlösung oder Tötung?

Werbung
Werbung
Werbung

Zu der Frage des Schwangerschaftsabbruchs haben sich die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik bis heute nicht zu einem gemeinsamen verbindlichen Wort aufraffen können. Sie können es wirklich nicht, denn es fehlt ihnen in dieser so brennenden Frage an der notwendigen Übereinstimmung. So hört man denn nur höchst widerspruchsvolle Voten. Allmählich allerdings wird deutlich, daß solche Widersprüche zwischen verschiedenen evangelischen Voten letzten Endes darauf zurückzuführen sind, daß man sich über den Ort der mit dem Schwangerschaftsabbruch verbundenen Schuld nicht einigen kann. Um einer weiteren „Kriminalisierung“ der Abtreibung zu wehren, neigen viele evangelische Christen und Theologen dazu, die Schuldfrage auf den jeweiligen betroffenen Personenkreis zurückzunehmen, also dem Staat eine Bestrafung hier nicht mehr zuzubilligen.

Diese Zurücknahme der Schuldfrage in den persönlichen, den privaten Bereich hat nun freilich zur Folge, daß die Öffentlichkeit meist nur den anderen Teil solcher Verlautbarungen zur Kenntnis nimmt, also zum Beispiel die Forderung nach Straffreiheit für Schwangerschaftsabbruch während der ersten drei Monate (Fristenlösung). Der angehängte Hinweis auf „die indivi-viduelle Verantwortung des einzelnen“ wird dann nur noch als ein christlicher Schnörkel verstanden, auch wo er im vollen Ernst vorgebracht wird.

Derartige Verlautbarungen scheinen unsicher zu sein auch hinsichtlich ihres Adressaten, der doch zunächst nur die christliche Gemeinde sein kann, das Gottesvolk der Kirche. Wie sonst wären Theologen befugt, sich eigens und gesondert zu einer allgemein diskutierten Frage zu äußern? Die Allgemeinheit aber hat ein Anrecht darauf, zu erfahren, wie sich die Christen als Christen künftig in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs verhalten werden. Das gilt ja nicht nur für schwangere Frauen, sondern um nichts weniger auch für Ärzte und Krankenschwestern, die an dem Abbruch der Schwangerschaft teilnehmen.

Es dürfte für den gesamten Bereich der Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung durch die Kirche von einschneidender Bedeutung sein, daß sich die acht evangelischen Landeskirchen in der „DDR“ zu einer klaren Übereinstimmung gegenüber der dort beabsichtigten Fristenlösung zusammengefunden haben. Das gemeinsame Wort der acht Bischöfe läßt an Entschiedenheit nichts zu wünschen übrig. Dieses Wort, das unterdessen in sämtlichen evangelischen Kirchen verlesen wurde, sagt ohne Umschweife, wie Christen sich — einschließlich der Ärzte und Krankenschwestern — angesichts der Fristenlösung verhalten sollten. So dient dieses Wort auch den Menschen außerhalb der Kirche zur Gewissensorientierung, ganz im Gegensatz zu den einander widerstreitenden Voten aus evangelischen Kirchen der Bundesrepublik. Um diese Situation deutlich zu machen, veröffentlichen wir zunächst das Wort der evangelischen Bischöfe in der „DDR“ und daran anschließend eine Meldung des evangelischen Pressedienstes über die Stellungnahme von 48 Hochschullehrern, wissenschaftlichen Mitarbeitern und Angestellten der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen.

„Am 23. Dezember 1971 wurde in der Presse ein gemeinsamer Beschluß des Politbüros der SED und des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik bekanntgegeben. Danach soll gesetzlich geregelt werden, daß künftig jede Frau bis zum Ablauf von drei Monaten selbst entscheiden kann, ob sie ihre Schwangerschaft unterbrechen möchte.

Wir können diese Ankündigung einer so erheblichen Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs nur mit tiefer Bestürzung hören. Um des Evangeliums willen sehen wir uns verpflichtet, den Gliedern unserer Kirchen und allen, die es hören wollen, fürs erste folgendes zu sagen:

Gott hat uns mit der Fähigkeit, neues Leben zu zeugen, zugleich die Verantwortung für dieses Leben übergeben. Auch keimendes Leben ist nicht unser Eigentum, sondern selbständiges, von Gott uns anvertrautes Leben. Die Ehrfurcht vor dem Leben (Albert Schweitzer) empfinden wir gerade dort, wo Leben wehrlos und schutzbedürftig ist. Der Abbruch einer Schwangerschaft ist Tötung menschlichen Lebens. Gott hat mit dem Gebot ,Du sollst nicht töten', menschliches Leben bejaht und geschützt. Es gibt Grenzfälle, in denen die Tötung dennoch verantwortet werden muß, aber Grenzfälle sind Ausnahmen, die Gottes Gebot nicht aufheben.

Bereits 1965 haben die evangelischen Kirchen das alles klar ausgesprochen. Wir wiederholen es heute nachdrücklich.

Wir verstehen wohl, daß Frauen und Mädchen durch eine Schwangerschaft in erhebliche innere und äußere Not geraten können, weil sie die Schwangerschaft nicht wollten oder weil ihre augenblicklichen Lebens- und Wohnverhältnisse eine Schwangerschaft unmöglich erscheinen lassen.

Wir alle wissen aber auch, daß uns heute vielfältige i Möglichkeiten der Geburtenregelung gegeben sind, und wir sehen darin den besseren Weg, unsere Verantwortung vor künftigem Leben wahrzunehmen. Der Abbruch der Schwangerschaft ist kein möglicher Weg.

Niemand überschaut heute alle sich aus dem Schwangerschaftsabbruch möglicherweise ergebenden körperlichen, seelischen und sittlichen Schädigungen. Wir müssen aber jetzt auf einige schwerwiegende Fragen hinweisen:

Die geplante Regelung, die den Abbruch der Schwangerschaft nahezu unbeschränkt freigibt, legt die Last der Verantwortung allein auf die moderne Mutter. Sie wird dadurch — zumal am Anfang ihrer Schwangerschaft — in vielen Fällen psychisch und auch sachlich überfordert sein. Sehr leicht kann in solcher Situation der aus Gedankenlosigkeit oder Egoismus stammende Rat anderer Menschen die eigene Entscheidung der betroffenen Frau verhindern.

Die geplante Regelung stellt die Ärzte, die durch ihr berufliches Ethos verpflichtet sind, Leben zu erhalten, vor schwere Gewissensfragen. Ärzte und Schwestern werden überdies von ihrem beruflichen Wissen her vor schwierige Entscheidungen gestellt. Verantwortliche Vertreter des Staates haben zugesichert, daß keine Frau zum Abbruch einer Schwangerschaft gezwungen und kein Arzt zur Vornahme dieses Eingriffs genötigt werden soll. Dennoch ist — wenn auch ungewollt — durch solche Freigabe der Tötung unerwünschten Lebens auf die Länge der Zeit eine allgemeine Abstumpfung der Gewissen im Blick auf den Wert des Lebens unausbleiblich. Ein Staat, der Ehe, Familie und Mutterschaft ausdrücklich unter seinen Schutz stellt, kann dies nicht wollen.

Die mit der vorgesehenen Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs zusammenhängenden Fragen, zu denen zeitlich begrenzten Straffreiheit würde dafür die notwendige Basis schaffen.

So bitten wir um des Evangeliums Eine Verringerung der Zahl der kriminalisierung geschaffene zeitlich willen alle, die es unmittelbar oder Schwangerschaftsabbrüche sei, so begrenzte Straffreiheit von Abtreimittelbar betrifft:heißt es in der Begründung unter bung die individuelle Verantwortung

Macht von der Möglichkeit des anderem, am ehesten durch sorgfäl- des einzelnen und stelle sowohl ihn Schwangerschaftsabbruchs keinen tige Beratung und wirksame Sozial- als auch die Gesellschaft vor die Gebrauch!hilfe möglich. Die Einführung einer Schuldfrage.

Drängt niemanden dazu!

Sucht den Rat anderer Menschen eures Vertrauens!

Laßt die betroffenen Frauen, Mädchen und Familien in dieser schweren Frage nicht allein!“

Mit Nachdruck stellen die Göttinger Theologen fest, daß die Forderung nach Straffreiheit in den ersten drei Monaten nicht die persönliche auch die des verantwortlichen Um- bestehe die begründete Hoffnung, Verantwortung für jede Entschei-gangs der Geschlechter miteinander daß in Zukunft die Mehrzahl der dung mindere. Wörtlich heißt es: „Die gehört, müssen in den Gemeinden, in Schwangerschaftsabbrüche in Klini- Entkriminalisierung des Schwangerden kirchlichen Ausbildungsstätten ken und nicht illegal unter gefahr- Schaftsabbruchs stellt keine Elimi-und Akademien vordringlich behan- vollen Bedingungen vorgenommen nierung der Schuldfrage dar.“ Viel-delt werden.würden.mehr radikalisiere die durch die Ent-

Die Meldung aus Göttingen Für die Einführung der Straffreiheit bei Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten und die gleichzeitige Einrichtung von Beratungsstellen, denen aber keine Entscheidungskompetenz im Sinne von Gutachterstellen zukommen dürfe, haben sich 48 Hochschullehrer, wissenschaftliche Mitarbeiter und Angestellte der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen ausgesprochen. Zu den Unterzeichnern der Stellungnahme, die den Fraktionen des Bundestages und dem Bundesjustizminister zugestellt wurde, gehören die Professoren Dr. Dr. Hans Georg Geyer, Dr. Götz Harbsmeier, Dr. Manfred Josuttis, Dr. Hans-Joachim Kraus und Dr. Rudolf Smend.

Die sogenannte Indikationslösung erscheint den Unterzeichnern untauglich, um die mit dem Paragraphen 218 angesprochenen Probleme zu lösen, weil damit „keine Änderung der bestehenden Verhältnisse im Sinn der Reduzierung der Abtreibungsquote erreicht werden wird“. Allein bei einer Fristenlösung

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung