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Fruchtbare Wunden

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Unter dem Titel „Ausgesprochen" ist nun das letzte Buch von Friedrich Heer erschienen. Bei der Lektüre stellt sich blitzartig Erinnerung an mein letztes Zusammentreffen mit dem Freund ein: vor etwa Jahresfrist bei Prälat Leopold Ungar, in dessen Heim am Kahlenberg. Heer erschien in Begleitung von Hubert Feichtlbauer. Auf den ersten Blick sah ich, daß mir ein Sterbender gegenübertrat. Er sprach es völlig ruhig aus: „Mit der seelischen Seite des Abscheidens bin ich im reinen. Was zu leisten bleibt, ist lediglich das Körperliche."

Sein schmales Buch hat mich erregt und fasziniert wie seit langem nichts mehr. Dem Vorwort ist zu entnehmen, daß es sich um auf Band gesprochene Texte handelt, die von Franz Richard Reiter zusammengestellt wurden. So hören wir des Autors Meinungen über Glück, Glückseligkeit, über Mystik, Katholizismus, über die Letzten Dinge, über Verzweiflung.

Die Äußerungen sind von einer Kühnheit und Souveränität, wie sie wohl nur ein mit dem Leben Fertiger formulieren konnte. So heißt es im Kapitel „Uber die Letzten Dinge":

„Es gibt keinen Denker in den europäischen Traditionen, der am großen X, an dem Dunklen, dem Unbekannten, dem nicht Berechenbaren, dem nicht Greifbaren, das nicht mit dem vielgeschändeten Namen der Gottheit, Gott angesprochen werden sollte, vorbeigegangen wäre. Das gilt auch gerade für die sogenannten atheistischen Denker ... Auch der sogenannte atheistische Denker Karl Marx und andere bedeutende Marxisten sind unvorstellbar ohne die religiöse Frage, die die Frage nach den Ersten und Letzten Dingen, nach dem Eschatologi-schen also die Frage nach erster oder letzter Apokalypse, Erscheinungen des Ungeheuerlichen, scheinbar ganz ausklammern, in Wirklichkeit jedoch verklausuliert und immanent die großen Fragen nach Liebe und Tod, nach Sterben, nach Sterblichkeit in ihren Denksystemen umkreisen."

Und an anderer Stelle:

„Goya und andere Künstler zeigen: Die Vernunft gebiert ihre eigenen Ungeheuer ..-. Sich mit dem Unwesen Mensch denkerisch zu befassen ist noch viel aufregender als die Feuer der Natur es sind."

Uber Leid, Leiden, Schmerz: „Ich spreche jetzt meine Uberzeugung aus, damit meine ich meine rationale Uberzeugung und meinen Glauben: Das Leiden des Menschen in der Welt allein verhindert jede Bemühung um eine Theodizee, jede Bemühung um eine Rechtfertigung Gottes, wie es ja Theologen immer wieder versucht haben. Ich halte Versuche einer Theodizee für obszön, für unfromm, übrigens mit Karl Barth. Die Märe, das heißt konkret: die Blutmäre, die Schand-märe, die Foltermäre, die Leidensmäre des Menschen, seine Geschichte also, sind mit menschlichen Begriffen von einer Gottheit in keiner Weise zu überdek-ken. - Der Mensch soll es nicht wagen, der Gottheit einen Persil-schein auszustellen. Der Mensch soll es nicht wagen, sich selbst einen Persilschein auszustellen, indem er zum Beispiel erklärt, daß der gute Christ oder der aufgeklärte Bürger die Verbindung von Thron und Altar auf sich nehmen muß, oder daß man auf sich nehmen muß, daß der Staat hinrichtet und Kriege führt und faktisch lebenslang Untertanen züchtet,produziert und dann verenden läßt. Nein! Nein! Nein! Woher das Leid, die Leiden, das Übel, das Böse? Keine Antwort, es sei denn die Antwort der Praxis von Menschen, die hingehen, und konkret gegen Leid, Unterdrückung, Terror, Folter, Kriegsmache kämpfen, ihr Leben wagen, also ganz schlicht, ganz schlicht, das Kreuz und die Kreuzigung auf sich zu nehmen wagen; 1938, wie die Jahre zuvor, wie 1934, 1939 und die folgenden Jahre."

Im Kapitel „Uber die Verzweiflung, Lebenskraft und Transzendenz" ist Furchtbares zu lesen: ... „bin verzweifelt, denke nur immer wieder: Es gibt keinen Gott, keine Gerechtigkeit, es gibt nur den Tod. (Wobei das Sterben ganz vom Tod, vom Ausgelöschtsein, von der Vernichtung verschlungen war.)"

Und ganz zuletzt, auf Seite 93: „Ich halte es mit den Scheiternden, den immer wieder Scheiternden. Die durch ihr Scheitern immer offener, bewußter, schmerzwacher, schmerzwissender werden. Ich möchte nicht noch einmal leben. Wenn mir aber dies Unmögliche zugefügt würde, erbetete ich mir dies: Hand in Hand meines so vielfachen Scheiterns mit jungen Menschen heute zu gehen, ohne viel zu sagen, still, in großer Dankbarkeit zu den Himmeln aufblickend, zur Erde, Mutter Erde mich neigend, nach links und rechts mich wendend, ihnen meine Wunden zeigend.

Keine Stigmatisation alter Art. Keine Verheiligung, keine Verherrlichung meiner Wunden. Doch dies: beharrlich bekundend, wie fruchtend, fruchtbringend, zeugend sie in mir gewirkt haben."

Gute Nacht, Friedrich Heer. Und Engelscharen singen dich zur Ruh.

AUSGESPROCHEN. Von Friedrich Heer. Verlag Bühlau, Wien 1983, 98 Seiten, kart., öS 126,-.. raquo;

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