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Frühstückstisch

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Gestern hatte er Geburtstag. Fünfundsiebzig Jahre. Ein schönes Alter, sagte sein Sohn, der Filialdirektor. Und fünfzig Jahre davon Delikatessenhändler und erst seit einem Jahr im Ruhestand. Gesund und munter bist du, sagte seine Tochter, die Primarärztin. Weil wir alle dich lieben, setzte seine Frau, die pensionierte Lehrerin, fort.

Eine schöne Zeit, alles zusammengenommen, sagte er am nächsten Morgen während des Frühstücks zu seiner Frau. Die Kinder sind längst ausgeflogen. Auch gut. Du und ich, wir sind doch glücklieh? Für den Sommer gibt es einen Kühlschrank und für den Winter die Zentralheizung. Erdgas. Ohne Schmutz und Asche und ohne viel Arbeit. Außerdem. Wir essen, was wir wollen. Kraut oder Kiwi, Aal oder Avocado. Dinge gibt es zu kaufen, die ich vor dem Krieg nicht einmal dem Namen nach kannte. Dabei war ich der bestsortierte" Kolonialwarenhändler der Stadt.

Da sieht man, wie alt du geworden bist, sagt seine Frau. Wieso? Weil du Worte verwendest, die es nicht mehr gibt. Kolonialwaren, zum Beispiel. Wo wären denn die Kolonien, frage ich dich.

Jetzt zieht er seine Schultern hoch, senkt den Kopf und schaut mit kleingewordenen Augen von unten hinaufblickend seine Frau an. Wie früher im Geschäft, denkt sie. Wie neunzehnhundertfünf-undvierzig. Da war er Monate hindurch ärgerlich. Später hat sich das gegeben. Da hat er zuletzt doch vergessen können, was ihm alles weggenommen worden war.

Seine Frau sitzt in ihrem Sessel zurückgelehnt und schaut ihm zu. Mein Mann, denkt sie. Der Vater meiner Kinder. Und was noch? Aber abgesehen davon. Warum bin ich plötzlich so wütend? Warum fühle ich mich gar so kämpferisch gestimmt? Warum strapaziert sein behäbiges Wohlergehen gerade heute in solch einem Maß meine Nerven?

Du glaubst, du bist ein Fürst zur Zeit der Jahrhundertwende, sagt sie schließlich zu ihm.

Er senkt die Schultern die er vorhin hochgezogen hat. Er hebt den Kopf und schaut sie mit Augen, die vor Erstaunen kugelrund sind, geradeheraus an.

Jawohl, setzt sie streitbar fort. Ich sage es noch einmal. Da sitzt du wie weiland ein Erzherzog. Du ißt Butterbrot mit Honig und danach eine Scheibe vom Früchtebrot und danach ein Stück der Torte, die vom gestrigen Fest übrigblieb. Und dazu trinkst du die zweite Tasse Peru-Hochland-Entwicklungshilfe-Bohnenkaffee. Du bist zufrieden. Aber, mein Freund, wir haben Winter. Und einige hundert Kilometer weiter frieren und hungern Menschen, die genauso wie wir ein Leben lang gearbeitet haben, die aber im Gegensatz zu uns weniger Glück hatten. Und gar nicht wenige sterben dort während dieses Winters. Vielleicht verhungern sie? Vielleicht erfrieren sie? Vielleicht werden sie erschossen?

Du bist dumm, sagt er nun zu seiner Frau. Sehr dumm sogar. Europäer schießen heutzutage nicht mehr aufeinander.

Sie merkt nun, wie ihr Mann seine eben noch erstaunt blickenden Kulleraugen in zwei sehr schmalen Schlitzen zusammendrückt. Durch die Nase atmend pumpt er seine alten Lungen - so gut es eben noch geht - mit Luft voll. Die Lippen hat er, zwei bräunlichgraue Streifen, aufeinandergepreßt. Still sein, jetzt denkt er, sagt sich seine Frau, die ihn schließlich Jahrzehnte hindurch kennt und die es wissen muß.

Er erholt sich. Wozu habe ich ihn vorhin gereizt, denkt sie. Jetzt ist mir das Ganze bereits wieder unangenehm. Er wird doch hoffentlich bald irgendetwas Belangloses sagen und wir haben danach einen hübschen Vormittag miteinander, bis wir um halb zwölf in die Restauration gegenüber zum Mittagessen gehen. Die haben heute Geflügeltag dort drüben. •

Was mir übrigens eben in den Sinn kam, sagt er jetzt: der eine zweimal, der andere dreimal. Oder ein viertes Mal. Auch gut. Wo ist da der Unterschied, frage ich dich? ^

Als er das verständnislose Gesicht seiner Frau sieht, setzt er fort: Wir haben es neunzehnhun-dertachtzehn und neunzehnhun-dertfünfundvierzig gehabt; nicht wahr? Das Frieren und das Hungern und manchmal auch das Erschossenwerden. Andere haben es ein drittes Mal dazu gehabt. Neunzehnhundertsechsundfünf-zig oder neunzehnhundertacht-undsechzig, wenn du willst Oder eben neunzehnhunderteinund-achtzig. Wo ist da etwas anders? Wir haben es zweimal gehabt und die eben dreimal. Denk doch bitte nach, ruft er noch seiner Frau zu, die sich einige Sekunden vorher umgewandt hat und hinausging und die nun bereits die Zimmertür hinter sich zuschließt.

Als er merkt, daß seine Frau im Nebenraum in keiner Weise auf seine eben geäußerten Gedanken reagiert, wird er ärgerlich. Immer diese unvernünftigen Auseinandersetzungen, denkt er. Und diese Frauen verstehen nichts. Deren Verstand reicht bestenfalls für das Kochen. Und erst als er sich neben dem Fenster in seinen Oh-renfauteuil setzt und am Einschlummern ist, heitern sich seine Züge wieder ein wenig auf.

Schön ist es, in Frieden alt zu werden, denkt er noch. Dann ist er eingeschlafen.

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