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Fruhling in den Kellern

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Was fur ein Theaterland ist eigentlich Osterreich? Und vor allem: Was für eine Theaterstadt ist denn nun Wien? Das bei Reclam erschienene Buch „Deutsches Theater seit 1945“ von Hans Dai-ber gibt Anlaß, darüber wieder einmal nachzudenken.

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Was fur ein Theaterland ist eigentlich Osterreich? Und vor allem: Was für eine Theaterstadt ist denn nun Wien? Das bei Reclam erschienene Buch „Deutsches Theater seit 1945“ von Hans Dai-ber gibt Anlaß, darüber wieder einmal nachzudenken.

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Denn es handelt sich hier ausnahmsweise weder um eine der wohlbekannten Selbstbeschimpfungen mit dem Etikett „made in Austria“, bei denen oft genug die geheime Absicht den Inhalt bestimmt, noch um eine jener bundesdeutschen Selbstbeweihräucherungen, die Österreich nur am Rande streifen und nicht einmal dabei voll nehmen. Daiber bringt vielmehr, eingearbeitet in die Geschichte des deutschsprachigen Theaters seit 1945, eine größere Menge von Informationen über Österreich als viele auf Österreich spezialisierte Werke. Und er behandelt dabei, um einen der Aspekte herauszugreifen, auch einen Teil der österreichischen Theatergeschichte, der in Österreich weitgehend vergessen und kaum je zusammenfassend, detailreich und objektiv dargestellt wurde. Nämlich das lebendigste Theater, das Österreich seit 1945 hatte - die Wiener Kellerbühnen der vierziger und frühen fünfziger Jahre.

Was in der späteren Bundesrepublik „Zimmertheater“ hieß und die unmittelbare Antwort auf die materielle Not der ersten Nachkriegszeit darstellte (nur Helmuth Gmelin hatte vor dem Krieg Überlegungen über ein magisches Theater im Mini-Format angestellt), hatte in Wien bereits Tradition als Heimstatt eines rebellischen, aufsässigen Geistes. Zwischen der Ausschaltung des Parlaments 1934 und dem Anschluß an Hitlers Deutschland 1938 galten in Österreich Theater mit weniger als 50 Plätzen („Theater der 49“ hieß dann folgerichtig eines) nicht als Theater, brauchten keine Konzession und konnten daher nicht mit deren Entzug bestraft werden, wurden von den Behörden „net amal ignoriert“ und unterlagen daher auch keiner Zensur. Das bedeutete natürlich keine volle Freiheit. Aber doch die Chance, mehr oder weniger verblümt zu sagen, was anderswo überhaupt nicht mehr öffentlich gesagt werden konnte.

Was bei Hans Daiber sehr deutlich herauskommt, ist, daß in Wien Kellertheater keineswegs nur aus der materiellen Not die Tugend ökonomischer Anspruchslosigkeit auf höchstem intellektuellem und künstlerischem Niveau machte, sondern sich alsbald als Alternative zum etablierten Theaterbetrieb profilierte, indem beide, die großen Theater und die Kellerbühnen, dort wieder anfingen, wo sie notgedrungen aufgehört hatten. Und den Kellerbühnen hatten nun einmal Hitler und der Anschluß das Lebenslicht ausgeblasen, den großen erst der von Goebbels verkündete „totale Krieg“ mit der darauffolgenden allgemeinen Theatersperre in den letzten Kriegsmonaten, und die Vor-Hitler-Tradi-tion, auf die man 1945 in Österreich zurückgreifen konnte, war nun einmal für die großen Bühnen eine eher opportunistische oder wenigstens der Anpassung und für die Kellertheater eine oppositionelle.

Mit der Objektivität des Ausländers und der Bosheit des Wissenden schildert Daiber, wie der Theaterbetrieb im befreiten Wien („Österreich war kein erobertes, sondern ein befreites Land. Nicht so befreit wie Dänemark oder die Niederlande, aber doch prinzipiell aufgenommen in die Völkergemeinschaft der Unschuldigen. Darum normalisierten sich in Österreich die Verhältnisse schneller als in Deutschland.“) wieder aufgenommen wurde:

„Den suchenden Burg-Künstlern stach das Volkstheater an der Bellaria ins Auge... Die Zerstörungen betrafen nicht den funktionellen Kern des Hauses, es stand lockend und verwaist an seiner Straßenecke. Aber Rolf Jahn, der letzte Volkstheater-Direktor vor dem .Anschluß', war schneller als die Leute von der Burg. Er pochte nicht nur auf altes Hausrecht, er stellte sich auch noch als Mitglied einer ephemeren Widerstandsbewegung vor und wollte sogar die Ensembles aller Wiener Bühnen unter seiner Leitung zusammenfassen. Darum erschien die Bemühung um das Volkstheater mehr als aussichtslos, nämlich als gefährlich. Jahn schien imstande, das Burgtheater zu schlucken, wenn man sich ihm näherte. Als Spielstätte für die Staatsoper war auch das Variete Ronacher im Gespräch gewesen, das allerdings wegen der geringen Ausmaße des Orchestergrabens disqualifiziert worden war. Das war für das Schauspiel kein Hindernis. Zwar war das Haus eigentlich für die .Adelsrepublik der Künstler* nicht standesgemäß, doch es lag leidlich zentral und war historisch empfohlen: als Heinrich Laube, Burgtheater-Direktor von 1849 bis 1867, sich grollend nach Leipzig zurückgezogen hatte, bauten ihm kunstliebende Bürger jenes Haus auf der Seilerstätte, sozusagen als ,Ge-gen-Burg'. Laube hat sein .Neues Stadttheater' (mit Unterbrechungen) von 1872 bis 1880 geleitet. Eine Kommission machte sich auf den Weg zur Seilerstätte: Major Lewitas, Lothar Müthel, der bisherige Generalintendant (die Russen wollten möglichst alle Theaterleiter weiter amtieren lassen), und der Dramaturg Erhard Buschbeck. Das Ronacher hatte zuletzt als Sanitätsmagazin gedient. Kisten voll Filterwatte standen auf der Bühne, die keinen Vorhang mehr hatte. Das Glasdach war beschädigt, im Keller lag ein Blindgänger, der erst nach Wochen auf beharrliche Bitten hin beseitigt wurde.“

Ich kann die Jahn-Episode nicht nachprüfen, aber sie klingt glaubwürdig. Sie wäre ein winziges Detail in der niemals geschriebenen Nachkriegsgeschichte Österreichs unter dem Gesichtspunkt der Auseinandersetzung zwischen Cleveren und Patscherten, aus dem KZ heimgekehrten Vorkriegspolitikern und politisch unerfahrenen Schwarmgeistern aus der Widerstandsbewegung (die dabei auf der ganzen Linie unterlagen), „Widerstandskämpfern“, die es erst in letzter Minute geworden waren, und echten Hitlergegnern, die nun den Anschluß verpaßten, zwischen Opportunisten aller (und oft mehrerer) Couleurs, Glücksrittern und Idealisten - in wer nigen Wochen nach dem Einmarsch der Russen wurden viele, in den folgenden Monaten so gut wie alle personalpolitischen Weichen fü r zehn, wenn nicht zwanzig Jahre Nachkriegsösterreich gestellt. Wenigstens in Wien. Hier jedenfalls am stärksten, für das ganze Land entscheidendsten.

Und diese Situation wurde zum eigentlichen Hintergrund dafür, daß die meisten entscheidenden Impulse für Österreichs Theater mehrere Jahre lang von den Wiener Klein- und Kleinstbühnen ausgingen (Daiber, um auf sein Buch zurückzukommen, merkt aber gerechterweise an, daß eine Reihe der wichtigen österreichischen Erstaufführungen nach dem Krieg nicht in Wien, sondern in Linz stattfanden). Denn eines der Kennzeichen der politischen und kulturellen Situation in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg war ein unbarmherziger Konkurrenzkampf, in dem vor allem die Etablierten die Außenseiter und die Alten die Jungen nicht zum Zug kommen ließen, fernhielten von den Schaltstellen und Futterkrippen. Nicht nur Vorsicht, Konservativismus und Ängstlichkeit der großen Theater bei ihrer Stückwahl schuf den Nährboden für Wiens blühende Kleinbühnenkultur der vierziger und (vor allem der frühen) fünfziger Jahre, sondern mindestens ebensosehr die außerordentliche Schwierigkeit, als noch so begabter junger Schauspieler, Regisseur (oder gar Autor) den Weg auf eine der großen Bühnen zu finden. Mit der Eroberung der großen Theater durch die jungen Talente begann folgerichtig der Keller an Bedeutung zu verlieren.

Daiber trägt in seiner zwar 410 Seiten umfassenden, aber angesichts des gewaltigen Stoffes notwendigerweise doch knappen Darstellung von drei Jahrzehnten deutscher, österreichischer und schweizer Theatergeschichte einiges schon halb Vergessene über die Wiener Kleinbühnen jener Zeit zusammen. Er zitiert Hans Weigel, der die damalige Situation treffend charakterisiert: „Die einen entthront, die anderen ausgewandert, viele zugrunde gegangen, um den Nachwuchs kümmerte man sich nicht,das Mittelmaß kam zum Zug“. Alles andere als die so oft und oft so verlogen zitierte „Stunde Null“ also. Im Wiener Theater fand sie hauptsächlich im Keller statt. Hier aber stellte man sich den ethischen Fragen, denen oben so geschäftig aus dem Wege gegangen wurde, ernst, engagiert, ohne opportunistische Rücksichten. Dabei kommt allerdings zwar das „Theater der Courage“ an den ihm gebührenden Platz, das „Theater am Parkring“ aber etwas zu kurz, und während die so oft vergessenen Horväth-Aufführungen der unmittelbaren Nachkriegszeit (in der Josefstadt, „Geschichten aus dem Wiener Wald“ im Volkstheater mit Wiens erstem Theaterskandal nach dem Krieg) die verdiente Erwähnung finden, gehen Kehlmanns Horvath-Ins-zenierungen im Konzerthaus unter.

Alles kann nicht stimmen auf 482 Seiten - so hieß der „Courage“-Regis-seur Rieger nicht Franz, sondern August, die Arbeiterkammer ist nicht „im Bundestag vertreten“ - und nicht nur deshalb nicht, weil wir keinen haben -, und der Tod von Leon Epp ist dem Verfasser entgangen, weil er von „Epps Abgang“ (1969)“ spricht Schönheitsfehler... Wie man überhaupt in vielen Punkten anderer Meinung sein kann als er. Aber das spricht für ihn - für sein Engagement, für seinen Mut zu einer eigenen Meinung!

Wer am Theater, wie es heute ist, verzweifelt, sollte „Deutsches Theater seit 1945“ lesen. Wir haben hier nur einen winzigen Teilaspekt herausgegriffen. Daiber hat den Mut, zu werten, und auch an heute noch weithin unbestrittenen (Fehl-)Bewertungen zu rütteln. Seine Darstellung ist einem politisch, moralisch, gesellschaftlich engagierten Theater verpflichtet. Einem Theater, wie es Wiens Kellerbühnen in ihrer Blütezeit bieten konnten. Die Basis dieses Theaters war freilich die Ablehnung der Unmenschlichkeit und ein demokratischer und humanistischer Konsensus. Der fehlt heute. Dem Kampf um die Menschlichkeit und den Widerständen dabei, und dem Konsensus in den grundlegenden Fragen in diesem Kampf, verdankt das deutsche Nachkriegstheater seine Lebendigkeit. Seinen Reichtum. Eine ganze Reihe der Stücke, die damals gespielt wurden, wären wiederzuent-decken. Möglich, ja wahrscheinlich, daß das erste Theater, das sich an einen Zyklus „Theater nach 1945“ heranwagen würde, von Borcherts „Draußen vor der Tür“ bis zur Dramatisierung von Sartres Filmskript „Im Räderwerk“, über seinen Erfolg überrascht wäre. Denn es war das Theater einer Minderheit gegen eine Gesellschaft, die nicht hören wollte. In Wien ging man damals besonders glatt zur Tagesordnung aller Opportunisten über. Vielleicht könnte man gerade in Wien das junge, den historischen Boden unter seinen Füßen suchende Publikum mit einem solchen Theater gewinnen - wenn man will.

DEUTSCHES THEATER SEIT 1945 -Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik, Österreich, Schweiz. Von Hans Daiber.Phi-lipp Reclam, Stuttgart. 428 Seiten, 67 Abbildungen, öS 298,80.

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