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Fünfhundert Jahre Einsamkeit

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Simon Wiesenthals jüngst präsentierte These, wonach die Fahrt des Christoph Columbus' in erster Linie dazu gedient habe, den aus Spanien vertriebenen Juden eine neue Heimstätte zu finden, ist nicht ganz neu, und wird durch ihre Wiederholung auch nicht richtiger. Vielleicht entstammte der Genuese tatsächlich einer (konvertierten) jüdischen Familie. Doch wozu bis nach „Cipangu" fahren, wo man die vor katholischem Eiferertum Fliehenden auch im östlichen Mittelmeer gerne willkommen hieß?

Kuzguncuk, Hasköy, Arnavutköy. Auf den steilen Anhöhen dieser früheren Vororte Istanbuls harren die steinernen Andenken der Istanbuler Judengemeinde ihrer Auferstehung. Längst schon besitzen diese Friedhöfe keine festen Markierungen mehr, längst haben neue Straßen und Wege sie umgepflügt, und nicht wenige der alten Grabsteine wurden von den neuen Herren Istanbuls, den anatolischen Bauern und Halbnomaden, zur Konstruktion ihrer über Nacht errichteten Gecekondu-Siedlungen entwendet.

Die offizielle Türkei, die einer propagandistischen Aufwertung gegenüber niemals abgeneigt ist, beging dieser Tage das Fünfhundertjahr-Jubiläum der Ankunft der aus Spanien vertriebenen sephardischen Juden. Sief läßt sich damit für die nicht ganz uneigennützige Entscheidung Sultan Bay zits II. feiern, der der ökonomisch sehr aktiven und weltoffenen Gemeinde Schutz und Asyl gewährte.

Vieles von der Geschichte der Istanbuler ist zwischen den Zeilen zu lesen, bleibt bruchstückhafte Andeutung, vage Gewißheit und Anekdote. Erste jüdische Gemeinden - die sogenannten Romaniolen - sind aus dem byzantinischen Reich überliefert. Die bereits gegen Ende des 14. Jahrhunderts einsetzende und vor 500 Jahren abgeschlossene Vertreibung der Juden durch die „katholischen Könige" Spaniens führte schließlich zu ihrer großräumigen Verbreitung im ganzen östlichen Mittelmeerraum und am Balkan.

Eine weitere Welle jüdischer Zu-wanderer erreichte das Osmanische Reich im 18. und 19. Jahrhundert -diesmal waren es aschkenasische Juden aus Osteuropa. Sie bildeten eine eigenständige Gruppe innerhalb der jüdischen Gemeinde Istanbuls, unterhielten ihre eigenen Synagogen -darunter auch einen österreichischen Tempel - und pflegten ihre alte Sprache, das dem Deutschen verwandte Jiddisch. Von dieser Präsenz deutschsprachiger Kultur am Bosporus zeugen heute nur noch die Grabsteine am Jüdischen Friedhof von Arnavutköy. Die meisten der weniger wohlhabenden Aschkenasim sind nach der Gründung des Staates Israel ausgewandert.

Synagogen säumen den Weg

Eine weitere Gruppe bildeten die sogenannten Karaiten, eine in Südrußland, Polen und Litauen verbreitete Sekte türkischstämmiger Juden, von denen einige ihren Weg bis in die frühere Hauptstadt gefunden haben.

In Balat und Hasköy, zwei Siedlungen am Goldenen Horn mit ehemals starkem jüdischen Bevölkerungsanteil, erinnern noch einige versteckte Synagogen an den Weg der Juden nach Istanbul: Ichtipol, Kasturiya, Tchana, Ohrida, Yanbol, Selaniko, sind ebenso ferne wie unauslöschbare Erinnerungen an die Juden Griechenlands, Makedoniens und Bulgariens. Viele andere, heute längst verschwundene Gotteshäuser sind nur noch namentlich bekannt - insgesamt waren es an die hundert!

Jahrhundertelang war Istanbul für die Juden ein rettender Hafen. Natürlich gestaltete sich das Zusammenleben zwischen türkischen Moslems und Juden nicht immer völlig konfliktfrei. Bezeichnend ist die Affäre um den „falschen Messias" Sabbetai Zwi, dessen Anhänger Ende des 17. Jahrhunderts bei Androhung der Todesstrafe gezwungen wurden, zum Islam zu konvertieren. Dennoch ist die Geschichte der Juden in der Türkei eine Geschichte des Erfolges - jüdische Ärzte und Künstler, jüdische Gelehrte und Buchdrucker trugen ihren Teil zum Reichtum der osmani-schen Kultur bei - und waren ein einzigartiges Beispiel religiöser Toleranz, auch und vor allem während des gesamten Zweiten Weltkrieges.

In Kuzguncuk, dem früheren Judendorf, in Kuzguncuk mit seinen schattigen Platanenalleen und seinem langsam vergilbenden Postkartencharme, wird jedes Jahr Sukot, das Laubhüttenfest, gefeiert - fröhlich und turbulent. Obwohl die meisten der früheren Bewohner des Ortes mittlerweile in die nobleren Viertel von Nisantasi, Sisli oder Suadiye verzogen sind, kommen sie an den hohen Festtagen immer noch in der stimmungsvollen Synagoge zusammen.

Heute leben noch etwa 20.000 Juden in Istanbul, kleinere Gemeinden gibt es auch in Izmir, Ankara und Adana, durchwegs Vertreter der wohlhabenden Ober- und Mittelschichten, politisch konservativ und unauffällig, gebildet und nach außen hin völlig assimiliert. Das levantini-sche Judentum als soziales Phänomen existiert schon lange nicht mehr. Nur im privaten Bereich, innerhalb der Familien, da lebt es noch fort, in deren Umgangssprache, dem alten Kastilianisch, in deren Festkalender-und in der kollektiven Einsamkeit und der selbstgewählten Distanz der Menschen zu ihrer Umgebung.

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