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für eine Gnadentods

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Ist der Begriff „Selbstbestim- . mung" bereits bei kommunikationsfähigen Menschen höchst fragwürdig, so wird er noch erheblich problematischer im Fall von Personen, deren Absichten wir nur erraten' können, die sich uns nicht direkt mitteilen. Ihre Wünsche meinen wir, aus Indizien erschließen zu können. Doch wie bei einem Indizienfall vor Gericht bleibt stets ein mehr oder minder starkes Maß an Zweifel.

Dies gilt einerseits für im Koma liegende Menschen, andererseits aber ebenso für Neugeborene und k o m m u n i k a t i o n s g e s t ö r t e Schwerstbehinderte. Auch wird mit der Selbstbestimmung argumentiert, obwohl noch offenkundiger als irgendwo sonst diese Selbstbestimmung eine Fremdbestimmung ist. Sie ergibt sich aus einer Folgerung, die ebenso fehlerhaft wie fatal ist. Verdeckt oder offen lautet sie: :, Wenn ich in dieser oder jener Lage wäre, würde ich so oder so handeln."

Der Außenstehende schlüpft also fürdie Entscheidungsfindung in die · PersondesBetroffenen, oderergibt vor, es zu tun. In Wirklichkeit kann und wird er immer nur er selbst bleiben. Ist er ein optimistischer Charakter, so wird er auch in einer hoffnungslosen Lage seines Gedankenzwillings positive Aspekte erkennen, ist sein übliches Handeln von Nützlichkei????erwägungen g????-: prägt, bringterdiesenatürlichauch in seine Projektionen ein. Füreinen Bergsteiger sind die Freuden eines Nicht-Bergsteigers ebensowenig abschätzbarwie für einen sportun;-

interessierten Kunstfreund die Wonnen körperlicher Betätigung. ' Ich bin der festen Überzeugung: Niemandkann sich in die Lageeines anderen versetzen. Während diese Maxime jeder einsieht, wenn es um soziale Schichten geht oder um Personen unterschiedlicher Kulturräume, nimmt man als selbstverständlich an, daß zwischen nichtbehinderten und behinderten Menschen leichter ein gemeinsamer Nenner zu finden ist.

Aufschlußreich ist für mich immer wieder die Aussage von Fremden, wenn sie mich in meinem Rollstuhl sehen: „Schade, daß Sie im Rollstuhl sitzen müssen .. Sie versäumen so viel vom Leben." Gerade ich genieße jedoch eben dieses Leben in vollen Zügen, anders vielleicht als jene es tun würden, aber eben auf meine Weise.

Nimmt es nicht Wunder, daß in der Debatte über Euthanasie und Sterbehilfe die Behindertenbewegung fast geschlossen gegen Hakkethal, Singer und Atrott auftritt? Warum verfechten gerade Nichtbehinderte so eifrig das Sterberecht für Behinderte, während die Betroffenen selbst für das Lebensrecht behinderten Daseins eintreten?

In den vielen Diskussionen um die Themen „Sterbehilfe", „Euthanasie", „Gentechnologie" , an denen ich mittlerweile teilgenommen habe, gelangte ich immer wieder an einen Punkt, an dem ich eingestehen mußte, reine menschliche Vernunft bringt uns nicht weiter. Irgendwann steht man an einer Wegkreuzung, wo man sich entscheiden muß: Unter welchen Vorzeichen sehe ich den Menschen, sei

er nun behindert oder nichtbehindert? Ich war nie ein besonders kirchenkonformerChrist, undichkann dies auch heute noch nicht von mir behaupten. Aber in diesen letzten J ahren habe ich eingesehen, daß ich ohne gewisse Vorgaben, die durchaus religiös geprägt sein mögen, diese Auseinandersetzung um Leben und Tod nicht bestehen kann.

Ich glaube, daß der Mensch mit einer Seele ausgestattet ist, und daß ihn dies von der nichtmenschlichen Kreatur unterscheidet. Ich glaube, daß der Mensch nicht das Recht hat, über sein eigenes Leben zu verfügen. So wie er sich nicht selber gebären kann, sondern das Leben als eine Art Geschenk be- . kommt - mag er nun das Geschenk

wollen oder nicht - so steht es ihm auch nicht frei, diesem Leben willkürlich ein Ende zu setzen. Ich glaube, daß unser Dasein, auch in seiner extremsten Form, zum Beispiel in Gestalt des kommunikationsunfähigen Schwerstbehinderten, einen Sinn hat, ohne daß ich erklären müßte, worin dieser Sinn b????s'????????t.

biese Axiome sJ.Dd nicht zu beweisen, eben weil sie Axiome sind. Man kann sie akzeptieren oder nicht akzeptieren, aber man behaupte nicht, daß diejenigen, die nur mit angeblich rationalen Argumenten Euthanasie und Sterbehilfe verteidigen, nicht ebenso unbeweisbare Axiome hätten. Solche Axiome lauten dann: Glück ist gut, Leid ist schlecht; j e intelligenter ein menschliches Wesen ist, destd besser; der Mensch und seine Ratio ist Maß aller Dinge.

Dr. Peter Radtke ist Geschäftsführer der „Arbeitsgemeinschaft Behinderte in den Medien e.V." in München. Die beiden Beiträge auf den Seiten 10 und lt sind Auszüge aus Vorträgen, die aus Anlaß des Tages des Lebens t 990 bei der von der „Aktion Leben" veranstalteten Tagung „Behinderte Menschen an unserer Seite - Inte­ gration statt Isolation" gehalten worden sind.

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