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Für erneuerte Bäuerlichkeit

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Die Zukunft des ländlichen Rau- mes kann nicht isoliert von der Gesamtsituation der Indu- striegesellschaft betrachtet werden. Berücksichtigen wir diese Situa- tion, kommen wir zu einer neuen Perspektive des ländlichen Raums als Ort der Zukunft.

Die Industriegesellschaft befin- det sich in einer tiefgreifenden Wende, in der der bäuerlich ge- prägte ländliche Raum eine neue Bedeutung erhält. Es gibt drei Gründe für diese tief- greifende Wende:

• Den Übergang von der reinen Versorgungswirtschaft zur Ver- und Entsorgungswirtschaft. Nur so kann die Umweltbedrohung über- wunden werden.

• Den Übergang von dem Jahr- hunderte währenden, vorwiegend intellektuellen Weltverständnis zu einem neuen Betonen von Gefühl, unmittelbarer Naturerfahrung und von Sinnfragen.

• Den Übergang von einer Wirt- schaftsperiode zur nächsten: In einer systemanalytischen Untersu- chung der Studiengruppe für In- ternationale Analysen (Studia) über diese Situation wurden vier Hemm- faktoren, die unsere derzeitige Si- tuation kennzeichnen, gefunden. Sie wurden mit medizinischen Namen belegt: institutionelle Skle- rose, Isolationsneurose, gesell- schaftliches Aids und institutionel- ler Krebs. Man kann sie als Alters- krankheiten der Gesellschaft ver- stehen. Diese Alterskrankheiten verhindern einen wirksamen Ein- satz unserer natürlichen Reserven zur - wenn man es so sagen darf - Produktion von Lebensqualität.

Versuchen wir nun, diese Unwirk- samkeit durch eine" Erhöhung des Einsatzes der Faktoren auszuglei- chen, geraten wir durch die über- dimensionierten Technologien über die Grenzen der Belastbarkeit un- seres Planeten - aber auch der Menschen. Zur Überwindung der Alterskrankheiten kann eine Art Frischzellentherapie der Ge- sellschaft angewendet werden, die auf folgenden vier Zukunftsprin- zipien für den Wandel der In- dustriegesellschaft beruht: Lebens vor Produktionsbereich, immate- rielle Faktoren vor materiellen, Langfristigkeit und Ganzheit- lichkeit sowie alternative Sanftheit

Wir können die gegenwärtige Situation der Industrieländer so verstehen, daß sie durch ein Über- gewicht der toten technischen und organisatorischen Apparate und Systeme gegenüber den lebendigen Organismen und der menschlichen Dimension in die Umweltprobleme und die oben genannten Alters- krankheiten geraten ist. Die vier Prinzipien bedeuten eine tiefgrei- fende Wende, die wir als Umkehr zum Leben begreifen können, die zur Entwicklung lebensgerechter Produktions-, menschengerechter Organisations- und sinngerechter Lebensformen führt. Daraus erge- ben sich neue Perspektiven für den bäuerlich geprägten ländlichen Raum.

Franz Werfel schreibt in seinem Roman „Der Stern der Ungebo- renen" über eine Gesellschaft 100.000 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Da gibt es nur noch unter der Erde- in einer hochzivilisierten und volltechnisierten Welt - Men- schen. Über der Erde ist alles tot, die totale Umweltkatastrophe. Es wachsen keine Blumen, keine Bäu- me, keine natürlichen Nahrungs- mittel mehr, sondern nur mehr graues Gras.

Da bricht etwas auf, was die unterirdische Zivilisation erschüt- tert. Die Menschen nennen es mit Grauen „Dschungel". An einigen wenigen Orten blühen wieder Blu- men, es gibt wieder Getreide und Hopfen und Malz und es gibt Men- schen, die trinken Bier, feiern laute Feste und singen.

Die unterirdischen Menschen ver- folgen dies alles mit feindseliger Angst. Schließlich laufen dann die Katzen, die ja ein Gespür dafür ha- ben, wo Leben ist, von der unter- irdischen Zivilisation zum Dschun- gel über. Dieser Exodus der Katzen ist nach Franz Werfel der Anlaß für die, wie er sie nennt, Faschisten der unterirdischen Gesellschaft, einen Krieg gegen den Dschungel zu beginnen; sie verlieren diesen Krieg und das Buch endet damit, daß die Dschungel-Leute den Besiegten wieder das Singen beibringen.

Wir brauchen nicht 100.000 Jah- re zu warten, bis dieses Bild aktuell wird. Eine Frage: Können wir noch singen? Singen, nicht nur Musik machen, sondern singen als Chiffre für eine Lebenskultur in dem Sinn, wie wir miteinander umgehen, wie man wirbt, wie man stirbt, wie man Feste feiert, wie man Sinndeutun- gen des Lebens erfährt aus tieferen Quellen, die bis zum Glauben rei- chen?

Dieses „Singen" hat die Indu- striegesellschaft durch die sterben- de Beziehung zum Leben verlernt. Ist der bäuerlich geprägte ländli- che Raum der Ort der Zukunft, durch den sie es wieder lernt? Mit anderen Worten: Handelt es sich bei den Zukunftsfragen des ländli- chen Raums nicht um mehr als nur um Produktionsmethoden.handelt es sich nicht auch um unseren Lebensstil?

Betrachten wir den bäuerlich ge- prägten ländlichen Raum vor dem Hintergrund der vier Zukunfts- prinzipien, so erkennen wir, daß sie in ihm noch verwirklicht sind: Was dieser ländliche Raum bewahrt hat, wird jetzt für die Zukunft der In- dustriegesellschaft entscheidend.

Lebensbereich vor Produktions- bereich ist im bäuerlich geprägten Raum dort erfüllt, wo die Pro- duktionsnotwendigkeiten noch nicht die lebensgerechten Pro- duktions- und Verhaltensformen verdrängt haben. Bezüglich des zweiten Prinzipes, Immaterielles vor Materiellem, sei auf das Bild von Franz Werfel hingewiesen. Wenn wo noch gesungen wird, also Immaterielles lebt, dann im bäuer- lich geprägten Kulturraum.

Die dritte Forderung, Langfri- stigkeit, ist eine Selbstverständ- lichkeit für einen Forstwirt, der in den Kategorien der Nachhaltigkeit denkt, und auch bei vielen Bauern ist noch (oder schon wieder) das Denken in Generationen vorhan- den. Ganzheitlichkeit ist eine For- derung der Praxis des bäuerlichen Alltags: Der Bauer kann es sich nicht leisten, nur von Pflanzen, nur von Tieren, nur vom Wetter, nur von Maschinen, nur von Buchhal- tung etwas zu verstehen. Er muß, ob er will oder nicht, ganzheitlich denken, ebenso wie der Land- und der Tierarzt, die nicht alles an Spezialisten delegieren können.

Alternative Sanftheit war und ist eine Grundhaltung einer bäuerli- chen Landwirtschaft, die durch die Jahrhunderte im Frieden mit dem Schöpfer, der Schöpfung und dem Geschöpf lebte und im bäuerlichen Familienbetrieb ihren stärksten Ausdruck findet. Wir sehen also, daß der bäuerlich geprägte ländli- che Raum ein Zukunftsraum ist.

In dem tiefgreifenden Wandel der Industriegesellschaft entsteht in drei Gebieten eine zunehmende Nachfrage nach einer neuen Bäu- erlichkeit: lebensgerecht produzier- te Lebensmittel, intakte Umwelt, Kulturlandschaft und Kultur.

Umfrageergebnissen zufolge stieg die Nachfrage nach lebensgerecht produzierten Lebensmitteln in den letzten 10 Jahren stark an. Die Erfolge der Bauernmärkte und der Direktvermarktung bestätigen die- sen Trend.

Das Umweltbewußtsein ist in den letzten 20 Jahren gewaltig gewach- sen. Eine Computerberechnung der Studia zeigt, daß eine bäuerliche Landwirtschaft ganz wesentlich zu einer besseren Umweltqualität beiträgt.

Aus der Untersuchung „Der länd- liche Raum in der Wende der Indu- striegesellschaft" ist zu entnehmen, daß bäuerliche Kulturlandschaft und Kultur als eine Art „Produk- tionsfaktor höherer Ordnung" auf- zufassen ist, der die Kreativität geistiger Arbeit anregt und damit zu einer höheren Wirksamkeit die- ser Tätigkeit beiträgt.Dies bedeu- tet, daß der bäuerlich geprägte ländliche Raum eine Schlüsselrolle für die kommende Lern- und Infor- mationsgesellschaft besitzt. Dies hat vor allem auch Bedeutung für den Nebenerwerbsbauern der Zu- kunft (Symbol: Pflug und Feder statt Sichel und Hammer).

Eine - rasch abnehmende - Zahl von „Agrarfachleuten" meint, die neue Sicht des ländlichen Raums sei eine Träumerei. Ganz abgese- hen davon, daß sich in der Ge- schichte sehr oft die „Träumer" als die eigentlichen Realisten erwiesen haben (siehe etwa die osteuropä- ische Entwicklung), muß gerade dem nüchtern Denkenden folgen- des bewußt sein: Wenn wir Land- wirtschaft als einen Industriesektor (miß-)verstehen, so müssen wir bedenken, daß sich unser aller Leben und das aller Kreaturen in der „Produktionshalle" dieses „Industriesektors" abspielt.

Über uns Österreicher wird manchmal gesagt, wir blickten voll Optimismus in die Vergangenheit. Aufgrund von Vergleichen mit dem Ausland, dürfen wir aber heute sagen, daß wir in der Perspektive für den ländlichen Raum den ande- ren Ländern voraus sind und wir dürfen darauf auch stolz sein. Wir müssen aber wissen, daß wir uns in einem Wettrennen befinden. Noch ist das Rennen nicht gewonnen. Aber eines können wir - um im Bild von Franz Werfel zu bleiben - sa- gen: Wir Dschungel-Leute sind im Kommen.

Der Autor ist wissenschaftlicher Leiter der Studiengruppe für Internationale Analysen in Laxenburg.

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