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Für Genies kein Sonderstatus

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Häufig wird gefordert, die Schule müsse die Begabten besonders fördern. Führt das nicht dazu, daß einige einseitig bevorzugt werden? Ein Pädagoge äußert Bedenken gegen die Eliteschule.

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Häufig wird gefordert, die Schule müsse die Begabten besonders fördern. Führt das nicht dazu, daß einige einseitig bevorzugt werden? Ein Pädagoge äußert Bedenken gegen die Eliteschule.

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Jeder einsame Gipfel gehört zu einem Bergmassiv, und jede Spitzenleistung beruht auf einem breiten Fundament. Niemand bezweifelt, daß dasjenige Land die meisten Olympioniken stellen könnte, das allen Jugendlichen von klein auf in ihrer Disziplin die größtmögliche Förderung zuteil werden ließe. Wer weiß, wie viele Klammers und Prölls in deren Generation noch verborgen gewesen wären? Beim Spitzensport stoßen wir sehr schnell an die finanzielle Grenze dieses Ansinnens. Im Bildungsbereich gibt es diese Barriere zumindest für die Pflichtschulzeit noch kaum, und auch im Sekundär- und Tertiarbe-reich ist sie nicht unüberwindlich.

Eines der größten Hindernisse besteht im allzu frühen Ausschluß von der Beteiligung an der niveauvolleren Bildungsarbeit! Eine der jüngsten Vergleichsstudien (IEA-Forschungsprojekt) hat die Mathematikkenntnisse der achtzehnjährigen Schüler beziehungsweise Schulabsolventen der Bundesrepublik Deutschland, in Schweden und in den USA überprüft.

Das eine Ergebnis, daß nämlich die Durchschnittsleistungen dort höher sind, wo von vorneherein die Talentierteren zusammengefaßt werden (Auslese mit zehn in der BRD, mit 15 in Schweden), wird niemanden überraschen. Wohl aber läßt das andere Ergebnis aufhorchen, daß nämlich die Leistungen der Besten in den heterogenen Verbänden wie dem amerikanischen High-School-System größer sind als im selektiven System der Schweden und dem der Deutschen.

Ein Schulwesen, das allen die Möglichkeit eröffnet, sich mit einem Kulturbereich von früh an und lange Zeit intensiv zu beschäftigen, hat größere Chancen, Eliten hervorzubringen, als ein selektives. Sollte es sich denn so verhalten, daß die überlauten Rufe nach mehr Elitenbildung im deutschsprachigen Mitteleuropa gerade darin ihre Wurzeln haben, daß die in diesem Raum ziemlich inselhaft tradierte frühe Selektion den Genies zum Stolperstein wird?

Untersuchungen von Treiber/ Weinert aus Baden-Württemberg und Baumert/Roeder aus Berliner Gymnasien weisen nach, daß in unseren gestuften Systemen mit ihrer vermeintlich homogenen Schülerzusammensetzung (traditionelle Hauptschulen und Gymnasien sowie quasi-progressive Leistungskursschulen) insbesondere die leistungsfähigsten Schüler eingebremst werden, obwohl ihnen doch nach landläufiger Meinung die „Bleigewichte” von den Füßen genommen worden sind. In der Pflichtschulzeit ist nun einmal die Organisationsform der beste Nährboden für die Begabungsentfaltung aller, welche wie in der Grundschule die Schüler in ihrer natürlichen Streuung beisammenhält. Homogene Gruppen suggerieren dem Lehrer Gleichheit und dienen ihm als Alibi für eine kollektive Gleichschaltung des Anspruchsniveaus. Die vielen schulischen Katastrophen, von denen Biographen der Genies berichten, bezeugen diesen Tatbestand, den Hermann Hesse in die Worte gekleidet hat: „Zwischen Genie und Lehrerzunft ist seit alters eine tiefe Kluft befestigt.”

Wir brauchen eine Bildungspolitik, die nicht denjenigen Lehrer unterstützt, der ständig diagnostiziert und ausmustert, sondern denjenigen, der vielfältige und anspruchsvolle Bildungsanregungen gibt und sich über die Verschiedenartigkeit der Köpfe freuen kann.

Wer das eigentliche Wohl eines Gemeinwesens herbeiführen will, darf niemanden abkoppeln. Jeder kennt die Beglückung, die er erlebt, wenn er im alltäglichen Umgang mit den Arbeitern und Angestellten der verschiedensten Beschäftigungszweige Menschen begegnet, die sich als Fachleute ausweisen, versiert, engagiert, und kreativ; und er kennt den Ärger und den Schaden, die entstehen, wenn das Gegenteil der Fall ist.

Viel schlechter noch als die fachlichen Defizite der sogenannten breiten Masse sind für das Wohlergehen der Gesamtgesellschaft die charakterlichen Einbußen, die durch die Kette von Zurücksetzungen bei den vielen Nachgereihten entstanden sind. Wenn Frustrationen neben den Kümmerformen des Selbstwertgefühles und den Fluchtreaktionen („A Schul' siagt mi nimma!” - Ausspruch eines keineswegs unbegabten 15jährigen) vor allem auch Aggressionen im Gefolge hben, dann würde eine einschlägige Forschung in den diversen Randalen der Hooligans durchaus auch Rachefeldzüge gegen eine Gesellschaft erkennen können, die sie ständig von sich gestoßen hat. Mit besonderer Eindringlichkeit muß die optimale Bildung aller um der Demokratie willen gefordert werden: Ihr Bestand ist geradezu existentiell an die Bedingung geknüpft, daß möglichst j eder Wähler ein vernünftiger Richter der Politik geworden ist.

Die elitäre Absonderung vergiftet aber nicht nur das Umfeld, sondern wird der Elite selbst zum

Bumerang. So wie sie den anderen das ungeheuer wichtige Vorbild der brillanten Entwürfe raubt, entblößt sie die Spezialbegabten von der Natürlichkeit, mit der die Runderen, die Bulligeren das Leben meistern.

Die Spezialbegabten sind nicht selten die Schwierigen, die Neuroseanfälligen, die Exzentrischen, die Schaden leiden, wenn sie unter eindimensionalem Verwertungsgesichtspunkt wie Dressurpferde -gleichsam in Quarantäne - gezüchtet werden. „Begabung ist nun einmal kein Gewächs, das in Monokulturen gedeiht!” hat Joist Grolle 1985 dem Kongreß für Elitenbildung in Hamburg vorgehalten.

Die Blindheit gegenüber dem Leben des anderen ist es zumeist gewesen, die uns in unserer Geschichte in Katastrophen gestürzt hat, aber selten der Mangel an intellektuellen Kapazitäten in diversen Leistungsbereichen.

In diesem Zusammenhang wird häufig sehr undifferenziert vom Leistungswettbewerb gesprochen. Daß er zwischen Firmen stattfindet, gehört zum System der Markt-

Wirtschaft. Im Betrieb selbst klagen die Verantwortlichen jedoch häufig darüber, daß unsere Schulabsolventen das Übervorteilen sehr viel besser gelernt hätten als das Zusammenarbeiten! Wer zum individuellen Leistungswettbewerb anstachelt, bedient sich des probatesten Instruments, uni Neid, Eifersucht und Haß zu schüren. Wenn es uns in den Schulen nicht gelingt, die Schüler über den Anreiz der Sache für einen Gegenstandsbereich zu gewinnen, dann ist es besser, die Finger davon zu lassen, als solches Doping zu betreiben.

Abschließend sei nochmals festgehalten, daß die erbmäßig exzellent Ausgestatteten auch milieumäßig (also insbesondere auch schulisch!) mit höchstem Einsatz begabt werden sollen, aber so, daß weder die anderen, noch sie selbst Schaden leiden. Das verlangt inte-grative Organisationsformen bis zum Ende der Pflichtschulzeit, nach welchem die Interessendifferenzierung automatisch ein Auseinandergehen einleitet, und einige weitere Konsequenzen:

• Die Lehrerbildung soll sich der immer besseren Schulung von Spezialisten für innere Differenzierung (individuelle Passung) im Unterrichtsalltag widmen, aber nicht der Qualifizierung von Spezialisten für das Aussondern und Aburteilen.

• Wanderlehrer, die gemäß anglo-amerikanischer Gepflogenheit zu den Kindern in die Sprengelschule oder in die sprengelnahe Schule kommen, werden gerechtere Chancen für alle Spezialbegabungen eröffnen, als es Spezialschulen können, die sehr zufällig an wenige Standorte gebunden sind und außerdem den übrigen Schulen die „highlights” unter den Fachlehrern entziehen.

• Wenn es daneben dennoch auch „geschlossene Anstalten” gibt, so mögen es diese mit ihren Schülern wie bisherige Kindermalschulen, Musikschulen und Sportvereinigungen halten: Sie besuchen mit allen übrigen Schülern den „normalen” Unterricht der allgemeinbildenden Schule und lassen dort -eventuell als Tutoren - die Mitschüler am Gewinn ihrer speziellen Förderung teilhaben.

• Alle Universitäten sollen ausgebaut werden und nicht nur einige wenige privilegierte, beziehungsweise private. Nur so finden alle Chemiker Laborplätze vor, die Pianisten ihre Flügel und die Informatiker ihre Computeranlage. Alle interessierten Studenten sollen Gelegenheit zur intensiven Praxis im Ausland haben und nicht nur die Liebkinder einer Eliten-Ideologie.

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