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Für Moskau sind sie alle „Faschisten” Widerstand im Namen der MenschenrechteOPPOSITION IM OSTEN

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Beim Versuch, die Träger oppositioneller Ideen zu diskreditieren und zu kriminalisieren (sie zu gewöhnlichen Verbrechern zu stempeln), scheuen sich die kommunistischen Machthaber nicht, auf das Vokabular und teils auch bereits auf die Methoden des Stalinismus zurückzugreifen. Besonders treten dabei die tschechoslowakischen Dogmatiker hervor, die neuerdings - genau wie zu Zeiten des Schauprozesses gegen Rudolf Slansky (1952) - die Unterzeichner der „Charta ‘77” mit einer imperialistisch-zionistischen Verschwörung in Zusammenhang bringen. Das tschechoslowakische KP-Organ „Rudė Prävo” ging sogar soweit, den angesehenen sowjetischen Atomphysiker und Friedens- Nobelpreisträger Andrej Sacharow - in der ganzen Welt als liberaler Demokrat und Humanist bekannt - als „Faschisten” zu titulieren und zu folgern, an Sacharows Schicksal könne man erkennen, „daß alle Wege des Antikommunismus im Faschismus endeten”.

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Beim Versuch, die Träger oppositioneller Ideen zu diskreditieren und zu kriminalisieren (sie zu gewöhnlichen Verbrechern zu stempeln), scheuen sich die kommunistischen Machthaber nicht, auf das Vokabular und teils auch bereits auf die Methoden des Stalinismus zurückzugreifen. Besonders treten dabei die tschechoslowakischen Dogmatiker hervor, die neuerdings - genau wie zu Zeiten des Schauprozesses gegen Rudolf Slansky (1952) - die Unterzeichner der „Charta ‘77” mit einer imperialistisch-zionistischen Verschwörung in Zusammenhang bringen. Das tschechoslowakische KP-Organ „Rudė Prävo” ging sogar soweit, den angesehenen sowjetischen Atomphysiker und Friedens- Nobelpreisträger Andrej Sacharow - in der ganzen Welt als liberaler Demokrat und Humanist bekannt - als „Faschisten” zu titulieren und zu folgern, an Sacharows Schicksal könne man erkennen, „daß alle Wege des Antikommunismus im Faschismus endeten”.

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So absurd dies’er Vorwurf auf den ersten Blick scheinen mag - er ist doch sehr aufschlußreich. Die sowjetischen Kommunisten pflegen nicht so sehr gegen die wirklichen Faschisten zu polemisieren. Mit denen hat Moskau mehr als einmal Bündnisse geschlossen - etwa wenn es darum ging, die parlamentarische Demokratie zu zerstören. Vielmehr ist im sowjetischen Sprachgebrauch derjenige ein „Faschist”, der dem sowjetischen Macht! und Ideologiemonopol erfolgreich widersteht und daher dem Regime gefährlich werden kann. Ein Blick auf diese „Faschisten” zeigt das in aller Klarheit. Als „Faschisten” wurden von der sowjetischen Propaganda jene engen Mitarbeiter Lenins bezeichnet, die von Stalin während der großen Säuberung der dreißiger Jahre liquidiert wurden. Als „Faschist” galt zeitweise Tito, weil er sich dem Moskauer Führungsanspruch widersetzte. „Fascht sten und Konterrevolutionäre” waren die ostdeutschen Arbeiter, die sich am 17. Juni 1953 gegen das sowjetische System wehrten und natürlich auch die ungarischen Revolutionäre um 1956.

Die Tatsache, daß der angesehenste Mann der russischen Opposition jetzt diesen Titel von der Propaganda des Ostblocks „verliehen” erhält, bedeutet nicht nur, daß es im Ostblock offenbar Kräfte gibt, die vor der Anwendung brutaler Methoden - womöglich bis zum politischen Mord oder zur Vernichtung der Existenz bei unliebsamen Dissidenten - nicht zurückschrecken. Zugleich ist es auch eine indirekte Anerkennung für die Wirksamkeit dieser Opposition im Ostblock. Moskau und seine Satelliten halten die oppositionellen Gruppen offenbar für eine akute politische Gefahr.

Besondere Sorgen bereitet den sowjetischen Führern die Tatsache, daß zum ersten Mal in der Geschichte des Ostblocks die Oppositionskräfte nicht mehr national isoliert sind. Sicher, es gab bereits in früheren Jahren Widerstand: 1953 in Ostdeutschland, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei. Aber dort handelte es sich um national begrenzte Ereignisse. Die Ostdeutschen rebellierten für sich, die Ungarn machten ihren Oktoberaufstand für sich - und auch der „Prager Frühling” 1968 war auf die ČSSR beschränkt.

Hinzu kam, daß die früheren Oppositionsbewegungen zwei weitere schwache Stellen hatten: Sie versuchten, das Problem von der Peripherie her gegen das Zentrum der Sowjetmacht zu lösen. Das führte in allen Fällen zur Gewaltreaktion des Moskauer Zentrums gegen die Peripherie - zum Einmarsch der Panzer. Zum anderen hatten sich alle bisherigen Bewegungen den Sturz oder die frontale Veränderung des Regimes in den betreffenden Ländern zum Ziel gesetzt - teils mit gewaltsamen Mitteln (Aufstand), teils durch grundlegende politische Reformen (Prager Frühling). Diese Zielsetzung aber mußte zu einer Solidarisierung der bürokratisch-polizeilich-militärischen Kader dieser Länder mit der Sowjetmacht führen. So endeten alle diese Bewegungen mit Mißerfolg.

Inzwischen aber zeigt sich, daß die osteuropäische Opposition tatsächlich aus der Geschichte gelernt hat. Vor allem aber hat sie von den russischen Dissidenten und Oppositionellen gelernt, die — wie Sacharow sagte — durch eine bittere Schule gehen mußten und deshalb die Ablehnung jeder Gewaltanwendung auf ihre Fahnen geschrieben haben. Die russischen Oppositionellen waren die ersten, die nicht mehr die Frage nach der politischen Macht, ja überhaupt nicht mehr die Frage nach einer politischen Lösung oder Ablösung stellten. Sie erklärten schon vor vielen Jahren, daß es ihnen nicht darum gehe, die gegenwärtig herrschenden Kommunisten abzusetzen - sondern nur darum, von ihnen die Respektierung der Gesetze, der Verfassung oder der von der Sowjetmacht geschlossenen internationalen Verträge und Konventionen zu verlangen.

Diese Tendenz, die sowjetischen Machthaber gewissermaßen mit ihren eigenen Gesetzen zu konfrontieren und von den Sowjetführern die Einhaltung der Sowjetverfassung zu verlangen (in der es einen Artikel über das Recht auf freie Meinungsäußerung gibt), läßt sich bei allen prominenten sowjetischen Oppositionellen der Sowjetunion von links bis rechts beobachten. Alexander Solschenizyn hat die Kreml-Gewaltigen in seinem „Brief an die sowjetische Führung” sogar aufgefordert, sie sollten die Macht ruhig behalten und nur die abenteuerliche kommunistische Ideologie aufgeben. Wladimir Bukowskij, der jüngst gegen den chilenischen KP-Chef Corvalän ausgetauschte Polithäftling erklärte, es gehe den sowjetischen Oppositionellen nur darum, den Menschen wieder die Möglichkeit zu geben, offen ihre Meinung auszusprechen und sich nicht fürchten zu müssen.

Die „neue Opposition” in Osteuropa tritt also nicht im Namen der Politik, sondern im Namen der Menschenrechte an. Um Sacharow hat sich schon vor einigen Jahren ein „Komitee zur Verteidigung der Menschenrechte” gebildet. In Moskau entstand ein sowjetischer Zweig der Gefange- nen-Hilfsorganisation „Amnesty International”. Schließlich gründeten sowjetische Dissidenten ein weiteres Komitee, das die Erfüllung der Helsinki-Abmachungen auf dem Gebiet der Menschenrechte und des Informationsaustausches in der Sowjetunion überwachen sollte - also erstmals ein Versuch, die Opposition als Kontrolle der Macht zu installieren - ein Vorgang, der in westlichen Staaten eigentlich selbstverständlich sein sollte, in der Sowjetunion aber eine Sensation darstellt.

Natürlfch stießen diese Aktivitäten auf wütende Reaktionen der sowjetischen Geheimpolizei, des KGB. Aber zwei Vorgänge sind in diesem Zusammenhang erstaunlich: Erstens hat die sowjetische Geheimpolizei es im letzten Jahrzehnt nicht fertiggebracht, diese Aktivitäten der Opposition voll i g lahmzulegen. Daraus ergibt sich, daß eine totalitäre Friedhofsruhe wie unter Stalin offenbar nur durch Massenterror und eine Schreckensherrschaft erzielt werden kann - und zu solchen Formen der letzten Gewalt konnte sich die Kremlführung aus vielerlei Gründen bisher nicht entschließen. Zweitens haben die „Spielregeln” der sowjetischen Opposition jetzt außerhalb der sowjetischen Grenzen Nachahmung gefunden:

In Polen, wo die Lage wohl am explosivsten ist, konstituierte sich nach den Arbeiterunruhen von Radom und Ursus im vergangenen Sommer das „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter” - eine von angesehenen Intellektuellen gegründete und getragene Organisation, deren Sympathisanten und Anhänger inzwischen in die Hunderttausende gehen sollen. Verteidigung der Arbeiter - in diesem Fall: Verteidigung gegen das brutale Vorgehen der Justizbehörden und der Geheimpolizei gegen die Demonstranten-war und ist aber nichts anderes als Verteidigung der Menschenrechte. Auch hier wird nicht die Abschaffung des Systems, nicht der Rücktritt Giereks verlangt - sondern lediglich die Unter- suchung der Übergriffe der Geheimpolizei und die Bestrafung der Schuldigen. In zahllosen Briefen wird Parteichef Edward Gierek aufgefordert, in einem Land mit demokratischer Tradition wie Polen keine „sowjetischen” Methoden anzuwenden.

Als vor einigen Tagen der sowjetische ZK-Funktionär Simjanin in Warschau eintraf, machte der Russe den polnischen Spitzenfunktionären heftige Vorwürfe, weil diese nichts gegen die Opposition unternähmen. Gierek soll darauf geantwortet haben, er könne die Opposition sehr wohl verhaften lassen - aber wehn er das tue, könne er keine Garantie mehr für Ruhe und Ordnung in Polen übernehmen. In gewissem Sinne ist also der polnische Parteichef zwischen den Sowjets auf der einen und der gereizten Volksstimmung auf der anderen Seite eingekeilt. Nicht zu vergessen ist dabei die Rolle der katholischen Kirche und dės Kardinals Wyszynski, der die Ereignisse von Radom lakonisch mit der Erklärung kommentierte, es sei tragisch, wenn sich Arbeiter gegen eine Arbeiterregierung zur Wehr setzen müßten. Die katholische Kirche verlangt von der Staats- und Parteimacht gleichfalls die Wahrung der Menschenrechte und der Menschenwürde. Zu dieser Würde gehört, wie der Kardinal am letzten Weihnachtsfest erklärte, auch die Sicherung der materiellen Lebensbedingungen des polnischen Volkes - damit die Menschen nicht wegen ein paar Lebensmitteln stundenlang anstehen müssen.

In enger Verbindung zur polnischen Entwicklung muß die DDR gesehen werden. Es ist kein Zufall, daß zwischen der Unruhe in Polen und der Unruhe in Ostdeutschland eine Art Wechselwirkung besteht: fast zur gleichen Zeit, da in Radom die Unzufriedenheit ausbrach, kam es zur Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz, zu den Auseinandersetzungen der SED mit ihren eigenen Linksintellektuellen, die mit der Ausbürgerung des KP-Don-Quijote Wolf Biermann in die BRD endeten.

Zugleich setzte auch in Ostberlin eine Verfolgung von Intellektuellen und Schriftstellern ein. Mit einem Male wurde bekannt,’ daß mehrere hunderttausend DDR-Bürger von ihrem Staat die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft und die Ausreise nach Westdeutschland beantragt hatten. Auch hier also ein Versuch, die Menschenrechte zu verwirklichen - in diesem Fall das Recht auf Freizügigkeit.

Wie unsicher das DDR-Regime ist, zeigte nicht zuletzt die Abriegelung der Bonner Vertretung in Ostberlin durch Volkspolizei und Sicherheitsagenten. Die Ostberliner Führung hat offenbar Angst, daß die Bundesrepublik eine magische Anziehungskraft auf die DDR-Bürger ausüben könnte. Die DDR ist zwar militärisch die stärkste Bastion, politisch-psychologisch aber der schwächste Punkt Moskaus, Hier müßte ein Uberhandnehmen der Opposition nicht nur mit dem Ende des Regimes, sondern mit dem Ende des DDR-Staates bezahlt werden.

Schließlich die ČSSR: der zündende Funke der Idee der Menschenrechte hat den längst totgeglaubten „Prager Frühling” wieder zum Leben erweckt. Wie immer die Prager Führung gegen die Unterzeichner der „Charta ‘77” Vorgehen mag und auch dann, wenn sie prominente Unterzeichner dieses Dokuments einsperren oder „auswei- sen” sollte - die Opposition wächst immer wieder nach. Die Sowjetmacht muß heute, fast neun Jahre nach 1968, erkennen, daß ihre Hegemonialpolitik kein einziges der anstehenden Probleme Osteuropas und auch keines der Probleme der Sowjetunion gelöst hat.

Die osteuropäische und sowjetische Opposition, die oft totgesagt und manchmal als eine Bewegung von Außenseitern abqualifiziert wurde, hat in den letzten Monaten eine erstaunliche Lebenskraft und eine große Fähigkeit zur Aktivität bewiesen. Das bedeutet nicht, daß ihr leichte Erfolge beschie- den sein werden. Das sowjetischkommunistische System wird sich mit allen Mitteln wehren - zumal wir wissen, daß bei den Kommunisten die Gemütlichkeit immer dann aufhört, wenn es um die Macht geht. Aber die osteuropäische Opposition tritt im Namen von Idealen auf, die dem Westen sehr vertraut sind. Sie scheint auch den Kommunismus selber zu verwandeln. Heute läßt sich bereits sagen, daß die Bekenntnisse der „Eurokommunisten” zu Pluralismus und Demokratie nicht zuletzt eine Folge des Einflusses der osteuropäischen Dissidenten auf die westeuropäischen kommunistischen Parteien sind. Mag sein, daß diese Bekenntnisse nicht ehrlich gemeint und nur taktisch zu verstehen sind. Aber auch in diesem Fall zeigt sich bereits ein Wandel im geistig-politischen Klima: noch vor zehn oder zwanzig Jahren wäre es keinem westlichen Kommunisten auch nur eingefallen, sich wegen politischer Häftlinge oder sogar wegen monströser Schauprozesse in der Sowjetunion irgendwelche Gedanken zu machen. Der Wind hat sich bereits gedreht. Und die Oppositionellen von Sacharow bis Havel, von Andrzejewski bis Kohout haben die Welt ein wenig verändert. In Osteuropa stehen unruhige Zeiten bevor.

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