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Für Selbsthilfe und Demokratie

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„Wir müssen uns selbst helfen. Alle Bedingungen dazu sind vorhanden. Alle Mittel und Kräfte stehen uns reichlich zu Gebote. Wir brauchen dieselben nur zur Anwendung zu bringen. Es ist durchaus nicht nötig, nach fremder Hilfe auszuschauen. Dies ist sogar von Übel und wirkt nur lahmend auf die eigenen Kräfte, welche auf das höchste angespannt werden müssen, wenn mit Sicherheit bessere Zustände herbeigeführt werden sollen.“

Das sagte Friedrich Wilhelm Raiff-eisen bereits im Jahre 1879. Damit betonte er, ,,daß Selbsthilfe und Zu-

sammenarbeit der einzig gangbare Weg war, die triste wirtschaftliche Lage des Bauernstandes Mitte des vergangenen Jahrhunderts zu verbessern“.

Frei von Not und frei von Zwang war das Ziel des Genossenschaftsgründers. Raiffeisen stellte somit die Menschen in eine Gemeinschaft von Freiwilligen. Seine Vorstellungen von Zusammenarbeit basierten auf Freiheit, Freiwilligkeit und Demokratie.

Berichte über die Erfolge deutscher 'Genossenschaftsgründungen drangen um 1880 auch nach Österreich, wo die ländliche Bevölkerung in einer ähnlich tristen Lage wie in “Deirtschland'war. Oer Niederösternei-chische Landtag beschloß daher am 26. November 1885 die Entsendung einer Delegation zu Raiffeisen mit dem Auftrag, den Nutzen dieser Wirt-, schaftsform für Österreich zu prüfen.

Die Berichte der Delegationsmitglieder waren vielversprechend. Wenig später wurden Musterstatuten nach deutschem Vorbild ausgearbeitet.

Am 4. Dezember 1886 kam es zur Gründung der ersten Raiffeisenkasse in Mühldorf bei Spitz durch Bürgermeister Ernst von Vergani. Frühere Genossenschaftsgründungen in Österreich erfolgten in der Regel nach Schulze-Delitzsch-Vorbildern. Zu Beginn des Jahres 1887 nahm die Raiffeisenkasse ihre Geschäftstätigkeit auf, im Dezember 1887 folgte die Gründung der Raiffeisenkasse in Scheibbs.

Beide Gründungen hatten Signalwirkung. Der Siegeszug der Raiffei-sen-ldee hatte begonnen. Schon

zehn Jahre später gab es in der Monarchie Österreich-Ungarn 1400 Raiffeisengenossenschaften. Angesichts der erfolgreichen Raiffeisen-kassen ließ die Gründung von Raiffei-sen-Lagerhausgenossenschaften zum gemeinsamen Ein- und Verkauf für Mitglieder nicht lange auf sich warten: Am 18. Mai 1898 fand in Pöchlarn die Gründungsversammlung des ersten Lagerhauses statt.

Schon um die Jahrhundertwende wurden in Tirol (1894), in Niederösterreich (1898) und in Oberösterreich (1900) Zentralkassen gegründet. Im Zuge der Weiterentwicklung entstanden die Bundeszentralen, die Genossenschaftliche Zentralbank (1927), die ÖRWZ-Österreichische Raiffeisen-Warenzentrale (1946) und der österreichische Molkerei- und Käsereiverband OEMOLK (1947). Gemeinsames Dach für alle Raiffeisen-Genossenschaften ist der im Jahr 1898 gegründete österreichische Raiffeisenverband.

. Die geistige Saat von Raiffeisen ist in Österreich aufgegangen. Mehr als zwei Millionen Österreicher sind heute Mitglieder dieser privaten Wirtschaftsorganisation. Zwei von drei Österreichern sparen bei Raiffeisen-banken. Jeder vierte von einem österreichischen Kreditinstitut vergebene Kredit stammt von einer Raiffeisenkasse.

Die Raiffeisen-Lagerhäuser übernehmen zwei Drittel der gesamten Getreideernte, von den Molkereigenossenschaften und Käsereien werden fast 90 Prozent der in Österreich angelieferten Milch übernommen.

Heute verbindet die Bevölkerung -wie Umfrageergebnisse zeigen - mit „Raiffeisen“ Begriffe wie korrekt, seriös und sicher. Das ist der „Lohn“ für den jahrzehntelangen Einsatz im Dienste der Mitgliederförderung.

Der Grundsatz der Selbsthilfe ist auch heute bei Raiffeisen untrennbar mit der Freiheit des Mitgliedes verbunden. „Frei von Not und frei von Zwang“ bedeuten heute Freiwilligkeit des Ein- und Austrittes von Mitgliedern sowie die Freiwilligkeit der Geschäftsbeziehung mit der Genossenschaft. Das Genossenschaftsgesetz spricht von „nicht geschlossener Mitgliederzahl“ und stellt Ein- und Austritt ebenfalls frei.

Jedes Genossenschaftsmitglied kann und darf damit ungehindert Geld- und Warengeschäfte abwik-keln, wo und wann es ihm beliebt: in

seiner eigenen Genossenschaft und/ oder bei nichtgenossenschaftlichen Unternehmungen. Raiffeisengenossenschaften und Zwang schließen einander aus. Daß aber Genossenschaften an die Grundsätze eines ordentlichen Kaufmannes gebunden sind, versteht sich von selbst.

Raiffeisen selbst warnte dringend davor, genossenschaftliches Geld und Gut ohne entsprechende Gegenleistung, ohne entsprechenden Zins, zur Verfügung zu stellen. Er schreibt in seinem Buch: „Darlehenskassen-Vereine“:

„Geld ist eine Ware, deren Wert wie der jeder anderen steigt und fällt. Es ist nicht ratsam, selbst dann nicht, wenn ein bedeutendes Reservekapital angesammelt worden ist, das Geld unter dem gewöhnlichen Werte bzw.

Zinsfuße auszuleihen. Ware unter dem Preise wird gewöhnlich nicht gehörig in acht genommen. So ist es auch mit dem Geld. Man sollte deshalb den Zinsfuß niemals unter den gangbaren Wert setzen.“

Ebenso widerspricht Raiffeisen immer wieder Meinungen, die Genossenschaften seien dazu verpflichtet, sich selbst aufopfernd jedermann hilfreich unter die Arme zu greifen. Raiffeisen hatte längst die Gefahr erkannt, die darin liegt, wahllos und karitativ - allein dem Herzen folgend -genossenschaftlich aufgebrachtes Geld und Gut unter die Leute zu streuen.

Immer wieder hämmerte Raiffeisen den Selbsthilfegedanken, der energisch in die Tat umzusetzen sei. Der Genossenschaftsgründer ließ keinen Zweifel an der Notwendigkeit, unter den Darlehenswerbern zu selektio-nieren, auszuwählen, mit den genossenschaftlichen Mitteln haushälterisch, vorsichtig umzugehen, um Verluste zu vermeiden.

Raiffeisen bekennt sich zum privat-wirtschaftlich orientierten Selbsthilfeprinzip und stellt der anonymen Macht des Staates die persönliche, demokratische Mitbestimmung entgegen.

Raiffeisen widerspricht der Vergesellschaftung privaten Vermögens und bekennt sich zu privatem Eigentum als Motor privater Initiativen und privaten Unternehmertums.

Raiffeisen stemmt sich gegen gesellschaftliche Zwangsbeglückung und Entmündigung des Individuums.

Raiffeisen bekennt sich zum Auslese- und Leistungsprinzip als den einzig natürlichen Prinzipien, die eine freiwillige Leistungsgemeinschaft lebensfähig erhalten können.

Raiffeisen bekennt sich zu sozialer Hilfe für unverschuldet in Not Geratene.

Raiffeisen tritt für nationale und internationale Zusammenarbeit aller liberal orientierten Kräfte ein und geht den Weg partnerschaftlicher Zusammenarbeit auf freiwilliger Grundlage im Verbund weiter.

„Frei von Not und frei von Zwang“ war das erklärte Ziel des Genossenschaftsgründers Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Selbsthilfe, Selbstverwaltung hießen seine Grundsätze, die heute die gleiche Bedeutung haben wie vor hundert Jahren.

Oer Autor Ist Generalsekretär des Österreichischen Raiffeisen-Verbandes.

Der Zeitgeist

Mit den Gütern und Genüssen sind überall auch die Bedürfnisse und Ansprüche gewachsen. Auch an den Kindern dieser Zeit bewährt sich die Erfahrung, daß das Menschenherz im Besitz und Genuß der vergänglichen Erdengüter keine rechte Ruhe und Befriedigung findet und daß sein Durst nach Glück durch das Trinken aus dem Becher der Welt nicht gestillt, sondern immer mehr gereizt wird. Zugleich wird der Kampf ums Dasein mit einer früher ungekannten Heftigkeif und Rastlosigkeit geführt; die industrielle Produktion ringt mit atemloser Hast im Wettbewerb auf dem Weltmarkt. Unter der erwerbstätigen Klasse herrscht weithin eine wilde Jagd nach Mehrerwerb und Mehrbesitz, und diejenigen, welche ihr Ziel erreicht und es zu Reichtümern gebracht haben, frönen vielfach verderblicher und anstößiger Verschwendung und Schlemmerei.

Wohin soll das alles führen? Wenn nicht Einhalt geschieht, so gehen wir den unheilvollsten Krisen und Erschütterungen entgegen. Es ist höchste Zeit, dem auf falscher Fährte befindlichen Zeitgeist eine andere Richtung zu geben, ein anderes Streben hervorzurufen.

Auszug aus der Einleitung (Seite 1) von „Darlehenskassen-Vereine“. Neuwied 1887. Fünfte Auflage)

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