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Für viele war der Schlosser besser

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In Belgrad gibt es kaum noch Arzneimittel. Deshalb hat mich der Selbstmord des alten Herrn überrascht.

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In Belgrad gibt es kaum noch Arzneimittel. Deshalb hat mich der Selbstmord des alten Herrn überrascht.

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Richter im Ruhestand, rüstig und stets gut gelaunt. Seine Frau hat er mit in den Tod genommen. Beide haben, so war zu erfahren, wochenlang Schlaftabletten gehortet.

Medikamente kann man bei „privaten Pharmazeuten" ausschließlich für ausländische Valuta bekommen. Mit seiner Rente von umgerechnet rund 50 Schilling war für den alten Richter ein würdiges Leben unmöglich geworden. Dafür konnte er nicht einmal mehr ein halbes Kilogramm Brot kaufen. In Müllcontainern nach eßbaren Resten zu wühlen, was in Belgrad schon so manche ehemals gutsituierte Bürger tun, mochte er sich nicht zumuten. In Belgrad begeht jeden zweiten Tag ein Rentner Selbstmord.

Ein anderer Nachbar, ein Zahnarzt, hat eben für umgerechnet nur 700 Schilling ein ganzes Schwein gekauft und schlachten lassen. Jetzt hat er Schinken, hausgemachte Leberwurst, Fleisch, Schmalz für den ganzen Winter. Er hofft, daß der elektrische Strom nicht unterbrochen wird, sonst geht alles in der Tiefkühltruhe zugrunde.

Die bisherigen serbischen Minister für Handel und Industrie, Vlajkovic und Mihajlovic, stehen wegen Amtsmißbrauchs und Korruption vor Gericht. Sie haben an geschmuggeltem Benzin umgerechnet rund 56 Groschen pro Liter -insgesamt mindestens je 4,9 Millionen Schilling verdient. Bei Mihajlovic fand die Polizei das Geld in einem Sack auf dem Dachboden hängen. Er behauptet, das Geld von Freunden bekommen zu haben, um für sie eine private Firma zu eröffnen. Für die seltsame Art der Aufbewahrung fand er keine Erklärung.

Der größte Teil der Bevölkerung, wahrscheinlich an die 70 Prozent - vor allem Rentner, Arbeiter und Angestellte - können bei einer Inflation von 2.000 Prozent allein im Monat August einfach nicht mehr leben.

Deshalb sollen verbilligte Pakete mit Mehl, Zucker, Speiseöl, Salz und Seife an die Bürger abgegeben werden. Die Lebensmittelkarten dafür sind schon ausgegeben worden, nur kann man nicht sicher sein, die Waren auch zu

bekommenBürger, die für ihre Produkte oder Dienstleistungen Bezahlung in harter Währung verlangen können, leben nicht schlecht. Geschickte Schmuggler, Kriegsgewinnler oder Plünderer und Räuber des Kriegs, legen die Fundamente für einen echten Reichtum - wenn sie nicht erwischt und als Sündenböcke angeprangert werden.

Die Geschäfte in Belgrad sind leer. Brot und Milch können nur Frühaufsteher kaufen, Fleisch wurde wochenlang nicht gesehen. Nur auf den Bauernmärkten ist für den Tageskurs der Deutschen Mark auf dem Devisenschwarzmarkt alles zu haben.

Die Regierungspropaganda behauptet, die Wirtschaftsblockade sei die Ursache für Elend. Aber das allein kann es nicht sein. Serbien hat stets Nahrungsmittel exportiert. Eigentlich müßte es jetzt sogar mehr Fleisch, Milch, Obst, Weizen und Mais geben, weil nichts ausgeführt werden darf.

Den Zusammenbruch der Wirtschaft und des Handels haben die Unfähigkeit der Regierung und die Kosten des Krieges in Bosnien und Kroatien verursacht. Mag sein, daß sich das Regime sogar freut, weil man behaupten kann, das Übel sei durch die „ungerechte Strafe" verursacht.

Tag und Nacht wird der Bevölkerung über den staatlichen Rundfunk eingebleut, das sei alles nur die Rache der Deutschen und Österreicher wegen „zweier verlorener Weltkriege". Bisher gab es nicht wenige, die das sogar glaubten.

Ein jedes Mal, wenn aus Wien oder Bonn besonders scharfe Töne gegen „die Serben" zu hören waren, war das nur Wasser auf den Mühlen der Propaganda der Kriegstreiber in Serbien. Aber auch das wandelt sich. Eine verzweifelte Hausfrau auf dem Markt bemerkte neulich: „Wegen der Sanktionen sollen die Hühner weniger Eier legen, Kühe weniger Milch geben?"

Viele denken mit Sehnsucht an die Zeiten Titos zurück. In Belgrad erschienen Graffiti an den Mauern: „Der Schlosser war besser!" Tito hat als junger Mann den Beruf eines Schlossers erlernt.

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