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Fundament mit Bestand

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Vor 90 Jahren, am 29. November 1891, wurde in St. Pölten Julius Raab geboren. Der am 8. Jänner 1964 verstorbene Staatsvertragskanzler, gern als Mann mit „einsamen Entscheidungen“ bezeichnet, legte das Fundament zu dem Boden, auf dem1 wir, manch widrigen Umständen zum Trotz, auch heute noch stehen.

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Vor 90 Jahren, am 29. November 1891, wurde in St. Pölten Julius Raab geboren. Der am 8. Jänner 1964 verstorbene Staatsvertragskanzler, gern als Mann mit „einsamen Entscheidungen“ bezeichnet, legte das Fundament zu dem Boden, auf dem1 wir, manch widrigen Umständen zum Trotz, auch heute noch stehen.

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Was Julius Raab angesichts seines Todes der Nachwelt zu sagen hatte, charakterisierte in ergreifender Schlichtheit den Christenmenschen. Er verabschiedete sich von uns mit dem patriotischen Appell, die rotweiß-rote Fahne hochzuhalten, hinterließ uns aber kein politisches Vermächtnis im engeren Sinn des Wortes.

Wenn wir nun die Perspektive wechseln und sein Leben von der nun neunzig Jahre zurückliegenden Geburt her betrachten, so drängt sich der Eindruck auf, daß ihn das Schicksal für seine inzwischen historisch gewordene Rolle aufgespart hat:

Es verschont ihn in den Isonzo- schlachten des Ersten Weltkrieges. Es erspart ihm, dem letzten Handelsminister der Ersten Re-

publik, die in der Zeit des Nationalsozialismus denkbaren letzten ‘ Konsequenzen. Und es rückt ihn, den Leopold Figl nach den Wahlen des Jahres 1945 als Handelsminister in seinem Kabinett haben wollte, durch den Einspruch der Russen von der Standespolitik ins künftige Zentrum der Politik.

Julius Raab hat in der Zweiten Republik schon lange vor der Dachgleichenfeier des Staatsvertrages Fundamente gelegt: gemeinsam mit Johann Böhm seit 1947 das Fundament für die Sozialpartnerschaft und gemeinsam mit Reinhard Karnitz seit 1952 das Fundament der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit Österreichs.

Die fünf Lohn-Preis-Abkom- men waren ein Modus procedendi für eine Politik des Maßhaltens unter Nachkriegsverhältnissen, die nicht leichter waren als die heutigen Verhältnisse in Polen. Und auch die Stabilisierungspolitik, die der bei diesen Abkommen bewährte Ratgeber Karnitz dann als Finanzminister einleitete, mußte mit Ausgabenverzichten beginnen, ehe sie durch Einnahmeverzichte wirtschaftsbelebende Impulse geben konnte.

Denken wir uns diese Voraussetzungen weg, denken wir an das noch viel ärmere Österreich des Jahres 1954, in dem Verteilungskämpfe durch Streiks und wo

möglich auf der Straße ausgetragen werden, in dem der Staatshaushalt nicht mehr finanzierbar ist und in dem die Wirtschaft angesichts der auslaufenden Marshallplanhilfe notleidend wird: Hätten die Sowjets trotz Tauwetter ein solches Österreich als Modellfall für die Möglichkeit einer Entspannung gewählt? Und welchen Stellenwert hätte das Angebot eines solchen Österreichs, neutral zu bleiben, gehabt?

Der Weg, den Julius Raab seit 1953 beschritt, um das Verhältnis zur sowjetischen Besatzungsmacht zu normalisieren und um mit Moskau ins Gespräch zu kommen, ist schon sehr gut dokumentiert. Zu unterstreichen bleibt nur, daß er diese Gespräche von

einer Position der inneren Stärke aus führen konnte: Nicht nur, weil er selbst als „starker Mann“ galt, sondern auch, weil sein Land durch sozialen Frieden und steigenden Lebensstandard keine Angriffsflächen bot.

Der Baumeister Julius Raab hat mit der Dachgleiche des Staatsvertrages seine politische Tätigkeit nicht abgeschlossen. Hat er sie nach 1955 gleichsam als Innenarchitekt fortgesetzt?

In mancher Beziehung ja, wenn man an sein Engagement bei den Verhandlungen über das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz oder über die Einführung der 45- Stunden-Woche oder an das Raab-Olah-Abkommen denkt. Doch lag es weder in seinem Wesen noch in der damaligen Situation, unmittelbar nach der Verwirklichung der Realutopie eines lebensfähigen und freien Österreich neuen Visionen nachzujagen.

Dem soliden Charakter von Raab widersprach es, einen staatspolitischen Erfolg in einen parteipolitischen umzumünzen. So weigerte er sich, noch im Jahr der Staatsvertragsunterzeichnung Wahlen abzuhalten, obwohl er gleichzeitig seinen Finanzmini- ster die populäre, wenn auch nicht unproblematische Politik der „Freiheit zum Nulltarif“ verkünden ließ.

Spekulationen im nachhinein können müßig sein, sie können aber auch dazu dienen, vergangene (und zukünftige) Handlungsspielräume auszuleuchten.

Entscheidend ist dabei nicht in erster Linie, ob die ÖVP bei Nationalratswahlen im Jahre 1955 tatsächlich die absolute Mehrheit errungen hätte. Entscheidend wäre gewesen, daß Raab als Verfechter der großen Koalition mit einem noch deutlicheren Vorsprung die Zusammenarbeit fruchtbar gestalten hätte können.

Und selbst für eine Politik, die erklärt hätte, daß die Freiheit nicht umsonst ist, daß die Staatsvertragslasten und die Lasten der neuen Landesverteidigung in einem sozial gerechten Ausmaß von allen zu tragen sind, wäre damals wohl eine Mehrheit der Österreicher zu haben gewesen. Denn das Anspruchsdenken war erst die Folge jenes Perspektivenwechsels, wonach man nicht mehr zu

fragen habe, was man für den Staat tun könne, sondern nur noch zu fragen, was der Staat für seine Bürger tun könne.

Es ist kein Zufall, daß Raab bei seinem letzten Versuch einer neuen Weichenstellung in der großen Koalition mit diesem Problem konfrontiert blieb. Der Achtungserfolg bei der Nationalratswahl 1956 war schon nach einem Jahr verspielt. Raab wollte nicht für die Bundespräsidentenwahl 1957 kandidieren, die „Denk-Rech- nung“ ging nicht auf und Raab erkrankte.

Als Raab nach der Nationalratswahl des Jahres 1959 mit nur einem Mandat Vorsprung mit Bruno Pittermann eine gemeinsame Regierung bilden sollte, wußte er, daß seine Partei in der Lizitationspolitik den Kürzeren ziehen würde.

So kam er im Gespräch mit Oskar Helmer auf den Gedanken, den Sozialisten unter der Voraussetzung eines Steuerstopps den Finanzminister anzubieten. Bekanntlich konnte er sich mit diesem „Kamitz-Opfer“ — Karnitz sollte übrigens schon damals Nationalbankpräsident werden — in seiner Partei nicht durchsetzen. Aller Wahrscheinlichkeit hätte, wenn Raab sich durchgesetzt hätte, der sozialistische Finanzminister Bruno Kreisky geheißen.

Ob Raabs Rechnung aufgegangen wäre, daß sich sozialistische Forderungspolitik und sozialistische Verantwortung für die Staatsfinanzen gegenseitig auf- heben? Auf jeden Fall ist zu bezweifeln, daß die ÖVP daraus in der Koalition besonderes Kapital hätte schlagen können.

Die beiden Fälle, in denen Raab sich mit „einsamen Entscheidungen“ durchsetzte und nicht durchsetzte, wiegen freilich gering im Vergleich zu jenen historischen Entscheidungen, die das Fundament zu dem Boden legten, auf dem wir, manch widrigen Umständen zum Trotz, auch heute noch stehen.

Diese Entscheidungen traf Raab nicht auf Grund von Meinungsforschungen und nicht von vornherein gedeckt durch Beschlüsse, aber nach Erforschung seines Gewissens und Beratung im kleinen Kreis. Dafür sind wir ihm Dank schuldig.

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