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Fußmarode der Nation

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Österreichs Bauern wurden seit dem „Oktoberkrieg“ selbstbewußter. Sie sehen erstmals seit vielen Jahren, eigentlich seit der unmittelbaren Nachkriegszeit, eine Chance, ihr Image bei einem Großteil der städtischen Konsumenten zu verändern. Erschienen sie noch vor wenigen Monaten vielen Städtern nur als lästige Verhinderer billiger Agrar-importe, denen man allenfalls noch Funktionen als Landschaftsbewah-rer und Lieferanten von Urlaubsromantik zuerkannte, so wollen sie nun wieder als die Garanten des Überlebens in Krisensituationen, die man heute wieder für möglich hält, gesehen werden. Auoh der städtische Konsument — und gerade er — hat begriffen, daß es auch in Zukunft zu Situationen kommen kann, in denen nur eine starke heimische Landwirtschaft die Ernährung der Österreicher sicherstellen kann.

Doch der Nutzen, den die Bauern selbst im günstigsten Fall daraus ziehen können, erscheint äußerst limitiert. So, wie es den Unterentwikkelten unter den Staaten im internationalen Maßstab ergeht, ergeht es Österreichs Bauern im nationalen Bereich: Selbst wenn sie noch so hart auftreten und Maximalforderungen durchdrücken, kann es ihnen im Vergleich zu den in anderen Wirtschaftszweigen tätigen Österreichern nur immer schlechter gehen. Sie bleiben Fußmarode, Nachzügler der Nation und müssen schon zufrieden sein, wenn sich der Abstand nicht vergrößert.

Auch diese Hoffnung grenzt an Illusion, wenn man sich die Lage der österreichischen Landwirtschaft vor Augen hält.

Im Bericht über die Lage der Landwirtschaft wird regierungsoffiziell für 1971 von einem bäuerlichen Einkommenszuwachs von 9,7 Prozent ausgegangen, von denen man aber 3,ß Prozent für eine Änderung der Kalkulationsunterlagen abziehen muß: der fiktive Mietwert der Bauernhäuser wurde auf der Einnahmeseite höher als bisher angesetzt. Berücksichtigt man noch die Geldentwertung von 4,7 Prozent, so bleibt eine Erhöhung des bäuerlichen Realeinkommens von 1,2 Prozent. Dies in einem Jahr, in dem die Arbeitnehmer einen Realzuwachs von 4,5 Prozent erzielten.

Zahlen für 1972 liegen noch nicht vor, doch wird der Einkommenszuwachs keinesfalls über 0,9 Prozent liegen. Dies in einem Jahr, in dem das Realeinkommen der Arbeitnehmer um immerhin 4,4 Prozent stieg.

Wäre nicht die Landflucht und die noch immer anhaltende Produktivitätssteigerung der Landwirtschaft, so müßte die bäuerliche Bevölkerung sogar einen massiven Rückgang ihres Lebensstandards hinnehmen. Betrug die landwirtschaftliche Bevölkerung vor dem Zweiten Weltkrieg noch rund 27 Prozent der Gesamtbevölkerung, so sank ihr Anteil auf 22 Prozent 1951, nur noch 16 Prozent 1961 und 12 Prozent vor zwei Jahren. Dies, obwohl keine andere Berufsgruppe eine so deutliche Berufstradition aufweist wie die Bauernschaft. Wäre sie mobiler, so wäre ihr Anteil heute noch geringer. Denn diese 12 Prozent der Gesamtbevölkerung (oder sind es heute nur noch 10?) erbringen seit 1962 in keinem Jahr mehr als 10 Prozent des Brutto-na'tionalproduktes, ihr Anteil am Bruttonationalprodukt nähert sich rapid der Marke von 5 Prozent.

Nach Adam Riese kann sich dieser Gegensatz nur in miserablen Einkommensverhältnissen niederschlagen. Für 1972 rechnete der Landwirtschaftsminister, wie er am 24. Februar 1973 erklärte, mit einem durchschnittlichen Bauerneinkommen von 39.000 bis 40.000 Schilling; und von diesem niedrigen Durchschnittseinkommen muß man ausgehen, wenn man sich klarmachen will, was es bedeutet, daß diese Bevölkerungsgruppe auoh prozentuell, von den absoluten Zahlen ganz zu schweigen, im Zuwachs hinter anderen Bevölkerungsgruppen zurückbleibt.

Um so erbitterter reagieren die Bauern auf die Hinhaltetaktik der Regierung in der Frage des Milchpreises — sie erhebt den Vorwurf, daß die Kalkulationsüberprüfung der Regierung sich an den leistungsfähigsten Betrieben orientiert und daher die weniger leistungsfähigen benachteiligt. Der ursprünglichen Forderung, den Literpreis um 51,5 Groschen anzuheben, schoben die Bauernvertreter Preisanträge auf weitere 2,75 Groschen pro Liter nach, womit die Preiserhöhungen von 90 Groschen pro Liter Dieselkraftstoff und 15 Prozent für den Mineraldünger abgegolten werden sollen.

Heute gesellt sich zur Inflation ein gewisses Krisenbewußtsein der Öffentlichkeit, die zu erkennen beginnt, welche Bedeutung eine leistungsfähige Landwirtschaft im Krisenfalle schlagartig gewinnen könnte. Österreich ist in dieser Beziehung in einer wesentlich günstigeren Lage als die Schweiz, die sich aus eigener Kraft erst nach einer mehrjährigen Umstellungsperiode ernähren könnte, und selbst dann nur auf minimalem Standard. Aber auch Österreich könnte früher als gedacht in eine kritische Lage geraten, wenn der notwendige Ausgleich zwischen den Produzenten- und Konsumenten-interessen in der Nahrungsmittelversorgung nicht hergestellt wird. Wozu es mehrere Wege gäbe. Nur müßte wenigstens einer von ihnen konsequent beschritten werden.

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