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Gäste auf dem Podium

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Erinnerte man sich an ein ähnlich mit den drei großen „B“ gebautem MUstem-Programm mit Rudoli Buchbinder vor vier Jahren, sc mußte man diesmal enttäuscht sein, Der große Geiger begann mit der klassisch-einfachen „Frühlingssonate“ Beethovens in einer Art, als habe er die „Kreutzersonate“ vor sich, verwendete eigenwillige Stricharten und forcierte fallweise das Tempo unmotiviert heftig. Der arme Emanuel Ax am Bösendorfer konnte zusehen, daß er mitkam. Entschädigen konnte bloß der große Ton seines Meisters. Aber — war es eine Täuschung? — an diesem Abend schien es nur wie eine ziemlich kalte Pracht. Auch in der abschließenden d-Moll-Sonate von Brahms wirkte der Künstler unwirsch, ließ die Schlußtöne mancher Phrase jäh abreißen. Doch Leidenschaftlichkeit und Virtuosität der Interpretation waren wenigstens dem Werk adäquat. Hier konnte sich auch Ax eher als blendender Musiker und Pianist mit polyphon durohlichtetem Spiel profilieren. — Dazwischen gab es Solovorträge. Von Bach kam diesmal die E-Dur-Partita dran, und erstaunlicherweise enttäuschte Milstein an diesem Abend sogar mit „seinem“ Bach. Dieses unter Bachs Solowerken verhältnismäßig unkomplizierte Stück erlebte nicht einmal die erwartete technisch makellose Wiedergabe: einmal hörte man zuviel vom Lagenwechsel, ein andermal wurde ein Spitzenton nicht ganz rein erreicht, hörte man einen Bogen-kratzer... Dabei, und das wiegt schwerer, war dieser Bach von einer inneren Unruhe erfüllt, die ihm die Geschlossenheit seiner unvergleichlichen Wirkung nahm. Die Spitzentöne der schnellen Passagen suggerieren eigentlich eine langsam fließende Melodik, unbeschadet aller raschen Sechszehntelnoten, die dazwischenliegen. Das wurde nicht erreicht. In einer Eigenkomposition über Elemente aus Werken Paga-ninis (Variationen) war Milstein diesmal am echtesten er selbst.

Er besteht neben den größten Schubert-Sängern seines Faches, zählt man auch von Schlusnus über Hotter bis Fischer-Dieskau: Der englische Bariton Benjamin Luxon bewährte sich im Schubertsaal an Schuberts Liederzyklus von der schönen Müllerin als ein wahres Genie des Ausdrucks. Manches singt er so bedeutungsschwer und seelenvoll, wie es kaum jemand wagen würde. Dabei wird seinem hell timbrierten, machtvollen Bariton der Saal zu klein, im künstlerischen (und wahrhaft echten) Affekt verläßt ihn manchmal sogar die Vorsicht, was technische Feinheiten betrifft. David Willison am Flügel ist ihm dabei mehr als ein Begleiter, er ist wahrlich die edle zweite Stimme, wenn sie auch „nur“ aus einem Bösendorfer dringt, den täglich andere Leute spielen.

Im Mittelpunkt des 7. Konzertes im Zyklus „Die große Symphonie“ (und auch des Interesses) stand Witold Lutoslawskis „Livre pour or-chestre“. Wir haben, anläßlich seines 60. Geburtstages und eines von ihm geleiteten Konzerts mit eigenen Werken auf diesen bedeutendsten Komponisten der polnischen Avantgarde nachdrücklich hingewiesen. Das etwa 20 Minuten dauernde, 1968 im Auftrag der deutschen Stadt Hagen geschriebene Werk ist übrigens eines der besten von Lutoslawski, dessen organische und logische EntwicKiung immer wieaer Kompositionen hervorbringt, die seriös und glaubwürdig sind. Man kann an seinem Werk tatsächlich die Phasen der neuen Musik seit etwa 1950 ablesen, die er maßgeblich mitbestimmt hat. — In dem „Livre pour Orchestre“ wechseln genau auskomponierte mit improvisierten Passagen, die aber so determiniert sind, daß sich ein logisches Ganzes ergibt, von dem eine starke, faszinierende Wirkung ausgeht. — Aber einem Teil des Publikums, das im Zyklus „Die große Symphonie“ halt so gar nichts Neues serviert bekommt (wenn wir von Martinu und Schostakowitsch absehen), hat diese Musik gar nicht gefallen, was lautstark zum Ausdruck gebracht wurde (das gute Recht des Publikums). — Aber was mag sich Witold Rowicki bei diesen Mißfallenskundgebungen gedacht haben? Er ist seit 1950 Chef dirigent der Warschauer Philharmonie und hält seit mindestens 20 Jahren dort, wo es gefährlicher ist, immer wieder den Buckel für neue und neueste Werke seiner Landsleute und „dekadenter Westler“ hin. Rowicki gilt, mit Recht, als Meisterinterpret gerade dieser Partitur, die die Symphoniker eindrucksvoll und überzeugend realisiert haben. — Am Beginn stand das sehr fein, differenziert und klangschön musizierte Concerto A-Dur von Antonio Vivaldi, in dem Orchester und Dirigent sich gleichermaßen auszeichneten. — Den 2. Teil des Programms bildete die 4. Symphonie von Brahms, mit der sich der Dirigent wesentlich weniger vertraut zeigte! als das Orchester.

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