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„Gastspieltheorie“ für die Eiskammer

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Sibiriens Geschichte ist eigenartig. Das weite Land vom Ural bis zum Stillen Ozean trat ins Licht der Geschichte, als der Moskauer Kaufmann Stroganoff 1581 eine Kosakenexpedition unter dem Anführer Jermak zur Erforschung Sibiriens ausrüstete. Die „Erforschung“ oder Eroberung dauerte 67 Jahre und erfolgte in bewährter Kolonialmanier: von den an die 100 turk-tatarischen und mongolischen Völkerschaften, die Sibirien bewohnten, wurden die meisten ausgerottet. Heute zählen die Ureinwohner knapp eine Million, bestehend aus 24 Stämmen.

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Sibiriens Geschichte ist eigenartig. Das weite Land vom Ural bis zum Stillen Ozean trat ins Licht der Geschichte, als der Moskauer Kaufmann Stroganoff 1581 eine Kosakenexpedition unter dem Anführer Jermak zur Erforschung Sibiriens ausrüstete. Die „Erforschung“ oder Eroberung dauerte 67 Jahre und erfolgte in bewährter Kolonialmanier: von den an die 100 turk-tatarischen und mongolischen Völkerschaften, die Sibirien bewohnten, wurden die meisten ausgerottet. Heute zählen die Ureinwohner knapp eine Million, bestehend aus 24 Stämmen.

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Doch anders als die Kolonien der westeuropäischen Länder wurde das Land weder nennenswert besiedelt noch wirtschaftlich ausgebeutet. Die russischen Grundbesitzer waren an wirtschaftlicher Entwicklung denkbar uninteressiert, gab ihnen doch das bis 1862 geltende Recht der Leibeigenschaft ausreichende Möglichkeiten zur Führung eines parasitären Wohllebens, in den sibirischen Weiten aber wäre persönliche Initiative und Dynamik vonnöten gewesen, und eine Aufrechterhaltung der Leibeigenschaft war unter den gegebenen Umständen organisatorisch sinnlos. So blieb das Land jahrhundertelang im Halbdunkel der Vergessenheit, ein leerer Fleck auf der Landkarte, in dessen abgründige Weiten nur Häretiker und Oppositionelle verstoßen wurden. Altgläubige, die sich der Kirchenreform widersetzten, zogen in die unzulängliche Taiga, andere Aufrührer und Widerständler wurden deportiert: so die Teilnehmer des Dekjabristenauf-standes von 1824, zu welchen die Elite der russischen Aristokratie zählte, polnische Aufständische, politische Linke wie Dostojewskij, kommunistische Revolutionäre ohne Zahl, auch Lenin, Trotzki, Stalin gehörten dazu, freilich auch Kriminelle.

Stalin, der die Schrecken der Deportation kannte und dem es gelungen war, ihr zu entkommen, fiel nichts Besseres ein, als diese unselige Tradition fortzusetzen. Er lieü Kulaken und Kommunisten, Kriminelle und Kriegsgefangene, Litauer und Esten, Wolgadeutsche, Krimtataren, Kalmücken und Mißliebige, ohne Zahl und oft auch ohne Grund, nach Sibirien deportieren. Die Massenlager, von Solschenizyn in dem Roman „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ anschaulich beschrieben, wurden erst nach Stalins Tod aufgelöst und erst danach, also in den fünfziger Jahren, begann eine organisierte Erforschung der Bodenschätze und wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes mit modernen wissenschaftlichen Methoden. Die Untersuchungen, die übrigens bis heute nicht abgeschlossen sind, ergaben einen schier unermeßlichen Reichtum an ungehobenen Bodenschätzen: die größten Kohle- und Erdgasvorkommen der Welt, mehrere Milliarden Tonnen Erdöl, riesige Eisenerzlager, wertvolle Metalle, darunter Gold, Uran, Kupfer, Nikkei, die Hälfte des Weltvorrats an Bauholz (770 Millionen Hektar), und Wasserkraft für 1,5 Billionen Kilowattstunden. Äußerst fruchtbar ist Sibiriens Schwarzerdegürtel, in dem jeder Hektar durchschnittlich 15 Doppelzentner Korn Ertrag bringt.

Diesen Reichtümern stehen nun aber mindestens ebenso immense Schwierigkeiten der Erschließung gegenüber, vor allem das Fehlen der nötigen Verkehrsverbindungen.

Durch Sibirien führt eine einzige, 7150 km lange und zum Teil eingleisige Bahnlinie, die Transsib, die natürlich bei weitem nicht ausreicht, das Land zu erschließen. Eine nördliche Parallelstrecke ist im Bau, doch konnten in den letzten sieben Jahren nicht einmal 1000 km fertiggestellt werden. Autobahnen, oder selbst ganzjährig befahrbare Straßen gibt es überhaupt nicht, für mehrere Monate im Jahr versinken Sibiriens Straßen im Schlamm. Die riesigen Flüsse de Landes, Ob, Irtysch, Jenis-sej, Angara, Lena sind als Verkehrswege nicht zu gebrauchen, da sie erstens entgegen der Verkehrsachse fließen, zweitens viele Monate des Jahres gefroren sind. Außerdem richten sie alljährlich große Überschwemmungen an, weil sie nach Norden fließen, im Süden das Tauwetter aber eher eintritt.

Das Flugnetz des Landes ist zwar sehr gut ausgebaut und billig zu benutzen, für Massentransporte sind Flugzeuge aber wenig geeignet. Eine weitere Schwierigkeit stellen die extremen klimatischen Bedingungen des Landes dar. Der Winter dauert zwischen sieben Monaten in den südlichen Gebieten, bis zu neun Monaten im Norden, Temperaturen um minus 30 Grad gehören zum Alltag, in Norden allerdings, so etwa in der nördlichsten Stadt der USSR, No-rilsk, kann das Thermometer bis unter 50 Grad sinken. Schon bei minus 40 Grad ist es gefährlich, längere Zeit im Freien zu verbringen, da an den Atemwegen innere Erfrierungen auftreten können, bei Temperaturen darunter kommen die meisten menschlichen Tätigkeiten zum Erliegen. Im Norden bleibt die Erde das ganze Jahr hindurch gefroren, nur im Sommer taut die Erdoberfläche ein Meter tief auf.

Das bedeutendste Handikap für eine Erschließung Sibiriens ist jedoch der Menschenmangel. Trotz seiner 25 Millionen Einwohner (davon 16 Millionen Russen) ist das Land menschenleer wie sonst keines in der Welt. Nur 30 Städte haben mehr als 100.000 Einwohner. Seit Zwangsumsiedlungen nicht mehr zum Instrumentarium der sowjetrussischen Politik gehören, also seit Stalins Tod, wurde mit den verschiedensten Mitteln versucht, Sibiriens Menschenpotential zu erhöhen. Verpflichtet werden heute nach Sibirien nur noch Absolventen von Universitäten und Technischen Hochschulen, die in Sibirien ein Jahr in ihrem Fach arbeiten und damit quasi eine Gegenleistung für ihr Stipendium erbringen. Chruschtschow hatte noch auf den Enthusiasmus der Jugend vertraut, und über die Jugendorganisation Komsomol wurden Tausende von Jugendbrigaden für den Aufbau riesiger Industriekomplexe in Sibirien mobilisiert. Die imponierenden Maßstäbe der sibirischen Großbaustellen weckten auch tatsächlich die Begeisterung vieler tatkräftiger junger Russen; so verfaßte Jewgenij Jewtuschenko ein Poem über „Das Wasserkraftwerk von Bratsk“. Eines der populärsten Lieder Ende der fünfziger Jahre hieß „Die Geologen“ und besang Entdeckerfreude und Freizügigkeit der jungen Geologen in Sibirien. Geologie war jahrelang eine der beliebtesten Studienrichtungen.

Allerdings vergaß der impulsive Chruschtschow, dem von der Jugend geforderten Enthusiasmus auch eine entsprechende materielle Basis zu geben. Nachdem sie zwei oder drei Jahre in Baracken und feuchten Zelten gehaust hatten, selbst die notwendigsten Dienstleistungen entbehren mußten und ihnen wegen Skorbut die Zähne ausfielen, weil nicht einmal Zwiebeln und Knoblauch in genügender Menge geliefert wurden, kehrten die meisten der Jugendlichen enttäuscht zurück. Heute versucht die Regierung, mit dem Prinzip der materiellen Stimulierung — höherem Lohn und besseren Sozialleistungen — Arbeitskräfte und Fachleute aller Art zum „Auswandern“ nach Sibirien zu bewegen. Der Durchschnittsverdienst ist in Sibirien etwa doppelt so hoch wie in Westrußland, „in Sibirien ist der Rubel größer“, sagt man. Außerdem erhält jeder Zuzügler eine Gratisfahrkarte, bis zu 50 Tagen Urlaub im Jahr, alle drei Jahre eine Gratisfahrkarte an einen beliebigen Ort in der UdSSR und nach 15 Jahren Sibirienaufenthalt wird das Rentenalter um fünf Jahre herabgesetzt.

Trotzdem reisen die meisten der Neuankömmlinge wieder ab, nur etwa 10 Prozent bleiben im Land. In den letzten zehn Jahren hat sich die Bevölkerung Sibiriens gar um eine Million vermindert! Der Grund hierfür liegt weniger am Klima (nur 18 Prozent der Rückwanderer begründeten ihren Entschluß mit den klimatischen Bedingungen), als in den schlechten Lebensverhältnissen und den allzu hohen Lebenskosten. Die Infrastruktur — Wohnungs- uad Schulbau, Krankenhäuser, Klubs, Bibliotheken, Kindergärten — ist in Sibirien nur höchst mangelhaft ausgebaut, allerdings ist ihre Errichtung auch doppelt so teuer wie im europäischen Rußland. Das Wohnungsproblem ist besonders gravierend: Fast die Hälfte aller Wohnungen in Sibiriens Städten (und natürlich alle auf dem Lande) befinden sich in traditionellen altrussischen Blockhäusern mit geschnitzten Fensterrahmen — sehr pittoresk zum Anschauen, aber ohne allen Komfort: der Abort steht draußen im Gärtchen, als Wasserleitung dient der nächste Hydrant auf der Straße.

Die Belieferung mit Lebensmitteln und Konsumgütern ist mangelhaft, die Auswahl gering. Frischgemüse und Obst, an dem es sogar in Moskau oft mangelt, ist in Sibirien noch schwerer und seltener zu erhalten. Außerdem sind die Lebensmittel wegen der Transportkosten auch viel teurer. Der höhere Verdienst läßt sich deshalb, aber auch wegen der Mehrkosten für wärmere Kleidung und Heizung, kaum realisieren. Fast nicht existent ist auch das Angebot an kulturellen Veranstaltungen, nur die jeweils besonders geförderten und propagierten Großbaustellen werden mit. „Kultur“ (Dichterlesungen, Konzerte, Vorträge) versorgt.

Zur Lösung all dieser Probleme haben Moskauer Ökonomen die sogenannte „Gastspieltheorie“ entworfen: Sibirien soll nicht von Dauersiedlern bewohnt werden, vielmehr soll nur zwei bis drei Monate an einem Ort gearbeitet werden, da im Winter sowieso nur wenig produktive Arbeit geleistet werden kann, den Rest des Jahres könnten die Arbeitskräfte an Arbeitsstellen in klimatisch und zivilisatorisch günstigeren' Gebieten verbringen. Von anderen Theoretikern wird diese Lösung aus soziologischen Gründen abgelehnt, da sie verständlicherweise eine fortschreitende Desintegration der Bevölkerung bewirken würde.

Abgesehen vom Arbeitskräfteproblem sind auch die finanziellen Kosten, die eine großzügigere Entwicklung Sibiriens erfordern würde, viel zu hoch, als daß sie die USSR allein tragen könnte. Durch Zusammenarbeit mit verschiedenen kapitalistischen Ländern, so mit Japan, Kanada, Frankreich, Italien, der BRD, versuchen die Sowjets, diesem Problem Herr zu werden. Aber auch diese Länder sind einzeln weder finanziell noch wirtschaftlich imstande, die benötigten Milliardenkredite und das technische Potential aufzubringen. Auch politische Risiken mögen bei westlichen Ländern Zögern hervorrufen, sich allzusehr in Sibirien zu engagieren. Nur die Anwendung modernster Technologien, etwa Atomenergie oder Sonnenenergie, könnten Sibiriens Entwicklung entscheidend beeinflussen. Ob es dann allerdings noch sinnvoll sein wird, Kohle und Eisenerz abzubauen und Wasserkraftwerke anzulegen, ist die Frage.

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