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Gebremster Umsturz

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Am 4. März wählen etwa 5 Millionen Chilenen die 150 Mitglieder des Repräsentantenhauses und die Hälfte der 50 Senatoren. Dabei stehen einander zwei Blocks in fanatischer Feindschaft gegenüber: auf der Regierungsseite die vom Präsidenten Dr. Salvador Allende geführte „Union Populär“, die aus Sozialisten, Kommunisten und Radikalen gebildet ist, und auf der anderen Seite die Opposition, zu der sich die linken Christdemokraten und die rechte „Nationalpartei“ zusammengefunden haben. Die Opposition bezeichnet die Parlamentswahlen als ein „Plebiszit“ über die bisherige Amtszeit des Präsidenten, während die Regierungsgruppe sie „Aburteilung der destruktiven Arbeit des Parlaments“ nennt. Die Regierungsparteien bemühen sich um die Mehrheit im Repräsentantenhaus, sind sich aber darüber klar, daß sie diese im Senat niemals erlangen können. Aber ihr Erfolg würde Allende zu einem Plebiszit ermutigen, um mit ihm das Einkammersystem einzuführen.

Wenn umgekehrt die Opposition die Zweidrittelmehrheit erzielte, könnte sie den Präsidenten absetzen, eine Möglichkeit, vor der Allende selbst warnt. Doch hält man es für ebenso unwahrscheinlich, daß die Allende-Gruppe über die Hälfte der Stimmen bekommt, wie daß die Opposition zur Zweidrittelmehrheit vorstößt.

Der ehemalige Präsident und jetzige christdemokratische Senatskandidat Dr. Eduardo Frei erklärte, daß die Regierung versuche, dem Land eine Wirtschafts- und Sozialreform aufzuzwingen, die zu der größten Katastrophe seiner Geschichte geführt habe.

Die Haltung der Wählerschaft wird vor allem von der schlechten Versorgungslage bestimmt. Es fehlt an Lebensmitteln jeder Art. Kürzlich kam es zu schweren Zwischenfällen, weil Hausfrauen, die eine halbe Nacht lang angestanden waren,keine Ware bekommen sollten. Man hat die Löhne erhöht, ohne die Produktion steigern zu können. So ist Chile ausverkauft. Infolge der Agrarreform sind Lebensmittel einfuhren von 450 Millionen Dollar notwendig geworden. Dabei erklärte Allende, Chile besitze keinen einzigen Dollar.

Die Wahl geht vor allen Dingen darum, ob Allende seinen „Weg zum Sozialismus“ bremsen oder ihn, was den Umfang der Nationalisierungen angeht, beschleunigen kann. In dem Wahlprogramm der „Union Populär“ heißt es, „um die Feinde des Volkes, die Bourgeoisie (im Innern) und den Imperialismus (außen) zu besiegen“, sei es „die erste Aufgabe, die ganze Macht für die Arbeiterklasse zu erobern“. Der französische Journalist Regis Debray, der durch seine Tätigkeit in der Guerilla Che Guevaras und seine spätere Haft im bolivianischen Kerker bekannt ist, erklärte kürzlich, daß das „revolutionäre Bewußtsein“ des chilenischen Arbeiters „mindestens dem des französischen und italienischen Kommunisten“ gleichkomme. Tatsächlich gibt es in Chile mehr doktrinäre Marxisten als in irgendeinem andern Land Lateinamerikas. Aber nirgends zeigt sich auch so deutlich die sich hierbei ergebende Fehlspekulation auf die Schaffung eines neuen Menschen. Gewiß glauben die Arbeiter, in den nationalisierten Betrieben Macht auszuüben, aber ihre dauernden Streiks, ihr ständiger Kampf um Lohnerhöhung und das Fehlen an Arbeitsdisziplin, die gerade Allende (wie übrigens auch Fidel Castro) bei jeder Gelegenheit beklagt, beweisen, daß die Fehlschlage in der Staatswirtschaft, wie sie in allen lateinamerikanischen Ländern zu beobachten sind, durch den Systemwechsel nicht beseitigt, sondern verstärkt werden.

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