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Gebrochenes Rückgrat

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„Im Fernsehen haben sie uns gezeigt, wie bei Bukarest die Planierraupe alte Bauernhäuser niedergewalzt hat“, erzählt der etwa 50jährige Mann1 in Cristian (Großau). Er gehört zu den rund 4.300 Altösterreichem in den drei Dörfern Großau, Großpold (Apoldu de Sus) und Neppendorf (Turnison) westlich von Hermannstadt (Sibiu).

Gibt es Hoffnung, von der Dorfschleifung und Zwangsurbanisierung verschont zu bleiben? Ein bitteres, ironisches Lächeln: „Wie können Sie so etwas fragen?! Wir verwirklichen doch den Kommunismus, wir bauen ihn endgültig auf. Beseitigen den Unterschied von Stadt und Land (wie es das Kommunistische Manifest vorschreibt, Anm. d. Red.). Auch unsere Dörfer werden an die Reihe kommen. Wir wissen nur noch nicht, wann es passiert und welche Häuser es betrifft.“ Dieses kalkulierte Spiel mit der Angst und Unsicherheit ist Teil des Dorfschleifungsprogramms von ihm, dessen Namen Nicolae Ceau- sescu die Dorfbewohner kaum aussprechen.

Seit rund 250 Jahren leben die „Landler“ in den Dörfern dieser „alpenländischen“ Landschaft Siebenbürgens. Aus religiösen Gründen aus ihrer Heimat im heutigen Oberösterreich deportiert, haben sie sich wunderschöne Bauernhäuser aufgebaut und erhalten. So erhalten wie den Fleiß und die Frömmigkeit, erzählt der Pastor von Cristian. Wenn diese Gemeinschaften ausgelöscht werden, ist es auch ihre Identität, ihr Brauchtum, ihre Kirche. Die können sie nicht mitnehmen in die häßlichen Einheitsblocks mit den Gemeinschaftsküchen und den Gemein- schaftsklos. Bad und Heizung wird es in diesen „agro-industri- ellen Komplexen“ auch geben. Aber man weiß ja, daß die ohnehin nie funktionieren, daß es Warmwasser nur sporadisch gibt, weü Energiesparen verordnet wurde. Was bleiben wird, ist die Erinnerung. An die alte Oberösterreich-Karte zum Beispiel, die beim Pastor in Neppendorf hängt. Er hat auch die Auswanderungsrouten dokumentiert; die Namen der Altösterreicher und ihr Leben festgehalten. Jetzt sollen sie wieder vertrieben werden, aber für immer.

In Cristian hat der Pastor im Vorjahr 20 Kinder getauft, vier Paare getraut. Er kennt kaum einen, der nicht auswandern will. Aus wirtschaftlichen Gründen, weil es für die Jungen keine Zukunft gibt. Was rät er seinen Gläubigen? Sollen sie hleiben? Lieber gehen? Er weiß es auch nicht. Manches Mal liest er Briefe vor. In der Kirche. Auswanderer schildern da ihr „anderes“ Leben. Das Warten in Auffanglagern, das Hoffen auf einen Arbeitsplatz, den Kulturschock. Vielen dauert die Ausreisebewilligung zu lang. Sie gehen dann illegal über die Grenze. „Oft kommen sie auch zurück. Tot. Erschossen.“ Wie jener junge Mann, den sie zuletzt zurückgebracht haben. Die Kugel eines bulgarischen Grenzers hat ihn gestoppt.

Es ist ein tristes Leben. Es fehlt an allem. Derzeit besonders an Mehl, Seife, Unterwäsche. Von Fleisch oder Obst redet ohnehin keiner mehr. In Apoldu de Sus beißt ein kleiner Junge in eine der mitgebrachten, ungeschälten Bananen. Woher hätte er wissen sollen, daß er sie schälen muß? Es gab seit zehn Jahren keine mehr.

Zigaretten wollen die Kinder haben. Sie sind wertvoller als Geld. Für drei Zigarettenschachteln der Marke Kent gibt es im Hotel ein Mittagessen. Es schmeckt nicht. Der tägliche Kampf ums Überleben steht noch vor Augen.

Samstag nachmittag im Zentrum von Sibiu: Die halbe Stadt scheint auf der Suche nach etwas Eßbarem zu sein. Geduldig, meist schweigend stehen die Rumänen Schlange. Die Kleider erinnern an die Kriegs- und Nachkriegszeit. Man sieht, daß Seife und Warmwasser selten sind. Ab und zu kommt ein Lieferwagen. Dann setzen sich die Menschen in Bewegung, wachsen zu einer Traube. Nicht hektisch, nicht aufgeregt. Eher apathisch, mit leerem Gesichtsausdruck. Überraschungen sind selten.

Je 15 Liter betrug die Benzinration im Jänner und Februar. Manches Mal kriegt man die Ration, dann wieder nicht, erzählt einer. Aber wohin soll man auch fahren? Die Asphaltstraßen sind holprig. Es gibt keine Kläranlagen und keine Filteranlagen. In den Nebenstraßen der größeren Städte liegt der Hausmüll vor der Tür. Der Wind trägt ihn über das Land auf die Äcker.

„Gummi?“ Fragende Augen von Frauen und Mädchen. Man schlägt sich auf den Kopf, weü man an Kaugummi gedacht hat. Nein, jede Gemeinde muß ihr Plansoll bei der Fortpflanzung erfüllen. Verhütungsmittel sind verboten, der Arzt kontrolliert die Frauen. Abtreibung wird mit Gefängnis bestraft.

Ständig fragt man sich, wie man helfen kann. Helfen, bevor die Menschen, deren Rückgrat gebrochen scheint, endgültig plattgewalzt werden. Auf jeden Fall kann man so helfen wie eine Gruppe junger Oberösterreicher kürzlich, die Lebensmittel in die Dörfer brachten. So nötig wie Essen brauchen die „Landler“ - aber nicht- nur sie — das Gefühl, nicht vergessen zu werden.

1) Namen werden auf Wunsch der Betroffenen nicht genannt Sie müssen mit Repressionen rechnen.

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