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Gedächtnisrennen

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Als der Mann noch lebte, der das Schlittenrennen veranstaltet hat- te, war es sehr einfach gewesen; er hatte die Verantwortung übernom- men. Jetzt, ein Jahr nach seinem Tod, wollten es die Männer organi- sieren und sprachen vom Breitene- der-Gedächtnisrennen. Sie bilde- ten ein Komitee. Der Junge kannte sie; er war wegen eines Gebrechens vom Treiben der anderen Jungen ausgeschlossen, hinkte hinter den Männern her. Sie trugen steife Überröcke, und als der Junge die Namen Stella und Lux hörte, be- achtete er den Mann, der die Na- men der zwei Pferde aussprach, die noch im Stall des Verstorbenen standen, weil die Witwe, wie der Mann sagte, das Andenken des Toten ehre. Niemand antwortete, und der Junge bezweifelte, was der Mann vom Andenken gesagt hatte; es war bekannt, daß er die Witwe besuchte. Da hatten sie also zwei sichere Favoriten.

Die Männer blieben vor dem Gasthaus stehen. Sie wüßten nioht, wie sie es anfangen sollten, dachte der Junge, bis einer der Männer aus der Innentasche seines Überrocks ein Papier holte und stockend die Namen der Geschäftsleute und Bauern ablas, die Traber hielten oder ein Kaltblut für das Rennen vorbereiteten. Einer der Männer brach in Lachen aus und sagte, daß sie die Angelegenheit nicht in der Kälte erledigen müßten; froh um die Lösung gingen die Männer in die Gaststube.

Sie wollen ein Rennen vorberei- ten, dachte der Junge, er mochte Pferde, und der Gedanke erregte ihn. Als Breiteneder begraben wurde, würdigte ein Redner am Grab seine Verdienste um die jähr- lichen Schlittenrennen; man über- legte nicht, wie es weitergehe. Jetzt, weil die Saison fast zu Ende sei, überstürzten sie es, dachte der Junge, und wippte vor dem Fenster stehend auf seinem gesunden Fuß. Er konnte zwei, drei Gesichter unterscheiden. Dann standen zwei Männer auf, erschienen im Tor und gingen über den Dorfplatz. Der Junge humpelte hinterher, der fri- sche Schnee fing den Aufprall sei- nes kranken Fußes ab, die Männer traten in die Werkstatt zweier Brüder, die das Schusterhandwerk betrieben. Sie waren als Sonderlin- ge bekannt, doch man sagte, daß ihnen gelinge, was anderen nicht gelinge, weil sie mehr Grütze im Kopf hätten. Die Männer steckten in Schwierigkeiten, dachte der Junge, war vor das Haus gelangt und betrat die Werkstatt.

Er kannte die Brüder gut, trug hin und wieder fertige Reparaturen aus. Die Männer standen da, als warteten sie auf eine Antwort; der eine der Brüder hatte einen Schuh in den Knieriemen gespannt und trieb Holznägel in die Sohle, der andere schnitt Leder zu. Der sagte, ohne die Männer anzusehen, war- um gerade sein Bruder und er. Keine falsche Bescheidenheit, sagte einer der Männer. Sie hätten Schwierig- keiten, dachte der Junge wieder, ein beliebiges Rennen brächten sie zustande, noch dazu mit zwei Fa- voriten, aber das Gedächtnis für einen Toten störe sie, und die Brü- der hätten schon Gedächtnisfeiern und Laienspiele gemacht. Der Äl- tere zog das Messer durch das Le- der, alle sahen stumm auf das Mes- ser, sagte, während er die zuge- schnittenen Teile aufeinanderleg- te: Na gut. Die Männer atmeten auf und drängten durch die Tür. Der Junge lachte; sie hatten sich be- nommen, wie er sich in der Schule benahm, wenn er die Lösung einer Aufgabe dem Lehrer überließ.

Das Unternehmen erschien ihm immer noch fragwürdig, doch dann erlebte er die Vorbereitungen; ein Mann schlug die Plakate an, mit großer Schrift stand der Name des Verstorbenen darauf. Er erfuhr, daß Mandl mitfuhr, ein fanatischer, aber ungeschickter Fahrer, den man mit einem geschlossenen Auge zuließ, oder der seine Teilnahme erzwang; es hatte heftige Auseinandersetzun- gen zwischen ihm und den Brüdern gegeben.

Es war Sonntag. Die Fahrer in den leichten Schlitten schell- ten durch die Straßen, die Arme mit den Leitriemen in den Händen aus- gebreitet, die Pferde, die Köpfe vor- gestreckt, rollten die Augen hinter den Scheuklappen. Fußgänger sprangen zur Seite. Es gab Füchse, Rappen, Apfelschimmel, Bandagen um die Fessel, nur die Pferde der Witwe trugen Ledergamaschen. Der Sammelplatz war hinter der gro- ßen Scheune auf freiem Feld, der Junge stand neben der Auffahrt und dachte beim Anblick der Kaltblut- pferde, die bunte Bänder in Mähne und Schweif trugen, es wäre besser, diese blieben zurück, sie störten das Rennen nur.

Viele Schaulustige gingen über den Schnee, und dann kam der schwere Schlitten mit den farbigen Seidenfahnen, fuhr auf die Tribüne zu, von der aus ein Komiteemit- glied die Männer anleitete, die auf der Startbahn die letzten Vorberei- tungen trafen. Ein Seil umgrenzte die Rennstrecke. Der Junge arbei- tete sich durch die Menschenmenge bis zum Seil vor, der Schnee war hart, der Junge zog sein krankes Bein nach, und als er auf der Höhe der Startlinie stand, sah er sich um; die Pferde waren unruhig, bäum- ten sich zwischen den Deichseln der leichten Schlitten, die Fahrer hingen am Zaumzeug, redeten auf sie ein, manches Kaltblut ging rück- wärts.

Unter den heimischen Fahrern gewahrte der Junge fremde und auch unbekannte Pferde und dach- te, diese werden die Brüder herge- holt haben, es waren Traber, und der Junge traute ihnen etwas zu. Nun bestiegen die Fahrer die Schlit- ten, während die Ordnungsleute die Pferde hielten, die Fahrer trugen Nummern auf Rücken und Brust, die Pferde wurden unruhiger, auf der Tribüne redeten die Männer durcheinander, die Menge drängte ans Seil, aus dem Lautsprecher sagte die Stimme den Start an, die Ordnungsleute ließen die Pferde los und die Schlitten gerieten gefähr- lich aneinander; dann kamen die Pferde in Trab, und es sah harmlos aus.

Der Junge gewahrte jetzt Mandl, der ein Pferd fuhr, das sich immer wieder quer zwi- schen den Deichseln stellte, er schlug mit dem Leitriemen auf das Pferd ein, richtete sich auf, schrie, gestikulierte, das Pferd kam wie- der in Trab, ging vorne hoch, und plötzlich bildeten Pferdeleiber und Schlitten ein Knäuel, an dem die anderen vorbeifuhren. Man hörte die Stimme aus dem Lautsprecher zur Ruhe ermahnen. Die Menge war weit ins Feld zurückgewichen, die Fahrer waren abgesprungen und bemühten sich mit den Ordnungs- leuten, Pferde und Schlitten zu trennen.

Der Junge sah die Männer, Pfer- de und Schlitten vor dem Gasthaus wieder, wo jährlich die Preisverlei- hung stattfand. Der schwere Schlit- ten mit den seidenen Fahnen fuhr vor, im ersten Stock des Gasthau- ses öffnete sich ein Fenster; man sah den Mann mit der Trompete und den, der die Fahne schwingen und die Preise ausrufen sollte. Da betraten die Brüder die Stufen vor dem Tor, aus dem Gasthaus kamen ein paar Männer, blieben stehen, als versperrten sie ihnen den Weg. Sie sahen sich an, und es begann etwas wie ein Beratschlagen oder wie ein Gericht - der Junge emp- fand es so -, wobei niemand wußte, wer anklagte und wer sich zu recht- fertigen hatte. Immer mehr Zu- schauer strömten herbei, einzelne riefen etwas dazwischen, das Fen- ster im ersten Stock schloß sich. Die Brüder deuteten auf Mandl, der wild auf die fremden Fahrer schimpfte. Das Geschimpfe unter- brechend rief einer der Brüder: Ein Gottesurteil, Mandl!

Der Junge begriff, daß er damit den Sieg der Fremden meinte, und später reimte er sich die ganze Wahrheit zusammen, als er den anderen Jungen zuhörte, die Partei für ihre Väter und Onkeln gegen die Fremden und für Mandl gegen die Brüder ergriffen: Mandl, ange- halten Verwirrung unter den Frem- den zu stiften, hatte, der Unglücks- rabe, sie unter die eigenen Leute gebracht. Mandl beschimpfte die Brüder, drängte sich an sie heran, zog die Einheimischen nach, und das sah aus wie eine Bedrohung. Die fremden Sieger standen ab- seits, und der Junge dachte, sie würden den Brüdern nicht bei- springen, die Sieger seien zu feige, und: es sei doch ein gutes Rennen gewesen.

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