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Gedränge vor der Pforte

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Aus welchem Grund und zu welchem Zweck auch immer jemand nach Israel kommt, er wird eines nicht übersehen können: daß auf diesem kleinen Fleckchen Erde die Zeugnisse religiösen Geistes gehäuft sind wie nirgendwo sonst. Heiliges Land in voller Anschaulichkeit. Die Juden, auch wenn ihnen von ihrem Tempel nichts als die Klagemauer geblieben war, sehnten sich aus zwei Jahrtausenden Diaspora hierher zurück. Die Christen in all ihrer Gespaltenheit empfinden doch Einigkeit im Hinblick auf Nazareth, Bethlehem und insbesondere Jerusalem. Und nach Mekka und Medina bilden El-Aksa-Moschee und Felsendom, über dem von den Römern geschleiften Tempel erbaut, das dritte große Zentrum religiöser Inbrunst der Mohammedaner. Da mag einer Atheist sein bis ins Mark, er mag Religion für Opium des Volkes halten, und wird hier doch zumindest eines zur Kenntnis nehmen müssen: daß der Mensch, seit wir deutbare Kunde von ihm haben, stets über sich selbst, und über die Gesellschaft hinaus nach etwas verlangt hat, das über ihm und über der Gesellschaft ist; daß er sich an einen persönlichen Gott hat binden, sich auf ein erlebbares Jenseits hin hat orientieren wollen. Jenseits jedweder individuellen Meinung ist Jerusalem eine Tatsache: die Tatsache der dem Menschen innewohnenden Religiosität.

Und eben dieses Jerusalem ist im Laufe seiner — übrigens gar nicht sehr langen — Geschichte wohl öfter zerstört worden als irgendeine andere uns bekannte menschliche Siedlung: jede neue, jede grad siegreiche Religion errichtete ihre Heiligtümer auf den Trümmern der vorigen, um diese völlig vergessen zu machen, jedwede Erinnerung an sie zu tilgen — mit zweifelhaftem Erfolge freilich. Denn da das jeweils Zerstörte als Steinbruch des jeweiligen Neubaus diente, kehrten die alten Symbole stets wieder: etwa das Kreuz der Christen im Felsendom der Mohammedaner, also KonthMiität bezeugend, wo Tabula rasa gemacht werden sollte.

Zerstörung brachten keineswegs nur die Heiden. Obwohl sich hier konzentrierte, was unter den großen Begriff des Monotheismus fällt — mit zahlreichen Gemeinsamkeiten nicht nur in Geschichte und Legende, sondern auch in der Sinngebung irdischen Daseins —, trotzdem also bekriegten einander hier gerade die Gottesgläubigen selbst: fanatische Sektierer des jeweils vermeintlichen einzigen Weges zur einen Wahrheit. So haben Mohammedaner wie Juden unter den christlichen Kreuzfahrern gelitten, so predigen heute die Muezzins ihren Heiligen Krieg gegen Israel.

Die Christen, in einigen Dutzend Variationen des Glaubens hier vertreten, bekämpfen einander zwar nicht mit Feuer und Schwert oder Artillerie und Bomben, aber mit1 eifersüchtiger Wahrung ihrer Kompetenzen insbesondere an jenen heiligen Stätten, die von mehreren Konfessionen gemeinsam betreut und benützt werden, etwa in der Geburtskirche zu Bethlehem oder in der Grabeskirche von Jerusalem; sogar Handgreiflichkeiten kommen mitunter vor. Der Stern, den die römische Kirche im Jahre 1717 in der Geburtsgrotte von Bethlehem anbrachte, wurde 1847 von den griechischen Christen entfernt und erst auf Geheiß der türkischen Regierung wieder restauriert! Eine Jüdin hier, Angestellte in einem Verkehrsbüro, sagte so zwischendurch und ganz ohne Pathos: „Ich weiß wenig von Jesus, ich kann nur sagen, daß er ein guter Jude war. Wenn die Menschen doch endlich sehen wollten — dann wäre Frieden!“

Was diese Jüdin nicht dazugesagt hat, aber hier augenfällig wird, ist das schier unerklärliche Phänomen der verkehrten Fronten. Auf der Suche nach dem Heil haben die Suchenden einander totgetrampelt, nicht anders, als die bei einem Theaterbrand von Panik erfaßten Menschen es tun auf dem Weg ins Freie. So herrschte an der Pforte zur ewigen Seligkeit ein mörderisches Gedränge, wie wenn im Himmel nicht Platz für alle wäre — zumindest für alle Menschen, die guten Willens sind. Viele Jahrhunderte wurden vertan und viele Millionen Menschen wurden geopfert mit immer neuen Versuchen, sich dogmatisch gegen jene Konkurrenten abzugrenzen, die in Wahrheit doch Leidensgefährten und also Weggefährten waren, anstatt sich zu einigen in der Substanz des Glaubens. Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte, und dieser Dritte war das Heidentum jedweder Provenienz, war der Atheismus, war letztlich der Teufel, der ja, um eine kürzliche Äußerung des Papstes hier anzuwenden, wirklich existiert: der Teufel weder als polternder Krampus noch als schillernder Mephisto verstanden, sondern als die Inkarnation des Bösen. Und wie in den religiösen Vakua sich der Aberglaube eingenistet hat, zeigen die hiesigen Museen mit zahlreichen Schaustücken: jüdische, christliche und heidnische Symbole sollen gleichermaßen schützen gegen den „bösen Blick“ und was sonst den Menschen noch ängstigt, wenn er sich nur noch irdisch und hiesig orientiert.

Wie die Fronten tatsächlich verlaufen, sagte gesprächsweise Eliezer Livneh, das (immerhin siebzigjährige) Enfant terrible der israelischen Publizistik. Für ihn, der keineswegs aus dem orthodoxen Lager, sondern aus der Arbeitspartei kommt, für ihn also ist die Zukunft seines Volkes und Staates eine Frage der Moral; eine Frage der Moral nicht in dem bigott-engen Sinn der Ablehnung von Minirock und Empfängnisverhütung, sondern im Sinn einer anerkannten Hierarchie, einer bindenden Wertordnung. Er fürchtet nicht die Araber und nicht einmal die Russen, er fürchtet auch nicht die Gleichgültigkeit des Westens gegenüber Israel. Wenn er überhaupt etwas fürchtet, dann ist es die Preisgabe jener Moral zugunsten eines Liberalismus, der nicht mehr Freiheit bedeutet, sondern totale Verantwortungslosigkeit. Und gegen das, womit Europa derzeit sich selber zugrunde richtet: gegen Libertinismus, gegen Pluralismus ohne Schranken, gegen den utopistischen Wahn, daß eine permissive Gesellschaft als Volk lebensfähig und als Staat funktionstüchtig sein könne, beschwört er, der alte Sozialist, den recht verstandenen Konservativismus. Im Grund dasselbe meinte Ephraim Kishon, als er den Deutschen, nachdem diese sich widerstandslos von Terroristen hatten erpressen lassen, nicht Ungeschick, nicht taktisches oder technisches Versagen vorwarf, sondern Immora-lität.

Israel ist im Westen, dem es geographisch gar nicht zugehört, der vielleicht einzige und letzte Staat, wo im edelsten Sinne abendländisch gedacht und gehandelt wird: wo die Moral (in der oben gemeinten weiten Bedeutung) die Priorität in der Staatsräson hat. Hier, auf dem Boden jahrtausendelanger tragischer Verirrung, wird plötzlich der wahre Frontverlauf sichtbar; hier wird die wahre, die wirklich entscheidende Alternative spürbar: zwischen einem Leben aus dem Geist und dem Leben in der Materie.

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